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Nach der Volksabstimmung: Schweizer Hardliner planen noch radikalere Abschottung

Europas Spitzenpolitiker drohen mit Konsequenzen, die Wirtschaft warnt vor Fachkräftemangel: Die Reaktionen auf das Schweizer Einwanderungsvotum fallen verheerend aus. Doch einige Eidgenossen wollen ihr Land bald sogar noch stärker abschotten.

Nach seinem großen Triumph setzte sich Christoph Blocher neben das Bild einer Kuh und gab ein einziges Interview – auf seinem Hauskanal Teleblocher, Folge 336, und ausnahmsweise auf Hochdeutsch. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) habe jetzt „peinlichst darauf zu achten“ dass die Berner Regierung „den Auftrag“ erfüllt, ließ der SVP-Chefstratege wissen. Der Auftrag – das ist die Umsetzung der umstrittenen SVP-Initiative gegen die „Masseneinwanderung“, der die Schweizer am Sonntag mit hauchdünner Mehrheit zustimmten.

Wie soll die Volksinitiative umgesetzt werden?

Nach dem SVP-Konzept muss Helvetien die Einwanderung von Deutschen, Italienern, Luxemburgern oder Österreichern in Zukunft mit „Höchstzahlen und Kontingenten“ begrenzen. Zudem kann der Anspruch auf Familiennachzug und Sozialleistungen beschränkt werden. Die Bestimmungen haben Verfassungsrang. Die siebenköpfige Mehrparteien-Regierung muss die SVP-Politik jetzt durchsetzen – obwohl das Kabinett gegen Blochers „Abschottungsinitiative“ gekämpft hatte.

Auch die Wirtschaft muss sich mit den möglichen Konsequenzen des harten Blocher-Kurses abfinden: Man fürchtet, dass in Zukunft gut ausgebildete Kräfte einen Bogen um die Schweiz machen werden. „Wenn etwa Google keine Fachkräfte mehr bekommt, wird sich der Konzern überlegen, ob er in der Schweiz bleibt“, warnt Hans-Ulrich Bigler, Direktor des Gewerbeverbandes. Doch die tatsächliche Umsetzung der SVP-Initiative wird nicht nur durch eine Regierung erschwert, die politisch nicht dahinter steht. Es bleiben auch viele inhaltliche Fragen offen: So ist noch völlig unklar, wie die Kontingente für die EU-Migranten festgelegt werden sollen, wer das tun wird und in welcher Höhe sie festgezurrt werden. Offen ist auch, welche Branchen oder Regionen auf ausländische Arbeitskräfte verzichten müssten, falls die Kontingente niedriger ausfallen, als es die Unternehmen verlangen.

Um Antworten zu finden, sollen nach Angaben der sozialdemokratischen Justizministerin Simonetta Sommaruga bald parlamentarische Beratungen stattfinden. Wie lange diese dauern werden, ist unklar. Fest steht hingegen: Die Schweizer Regierung muss mit der EU das Abkommen zur Personenfreizügigkeit neu verhandeln. Dafür gilt eine Frist von drei Jahren. „Es ist davon auszugehen, dass die Europäische Union wissen will, wie sich die Schweiz eine Revision des Freizügigkeitsabkommens überhaupt vorstellt, bevor man über konkrete Verhandlungen reden kann“, sagte die Justizministerin. Der Ausgang sei „ungewiss“, sagt Sommaruga, zumal die EU mehrmals klarstellte, dass sie mit den Schweizern über das Abkommen gar nicht verhandeln will.

Experten wie der frühere Lausanner Europa-Professor Dieter Freiburghaus prognostizieren zunächst einen Stillstand im Verhältnis zur EU. „Sowieso wird in den nächsten drei Jahren nichts passieren, was die Personenfreizügigkeit in Frage stellt“, sagt er dem Zürcher Tages-Anzeiger.

Jetzt drohen der Schweiz noch radikalere Abstimmungen

Wie konnte es zu dem Sieg der SVP gegen die EU und gegen die Regierung kommen?

Ausschlaggebend für den Erfolg dürfte letztlich die geschickte Kampagne der SVP gewesen sein. Die SVP habe in „alle Richtungen mobilisiert“, analysierte der Zürcher Politikwissenschaftler Michael Hermann. Es ging nicht nur um Migration, sondern auch um Naturschutz, Wohnungsnot und Wohlstand. „Somit betrifft die SVP-Initiative alle“, sagte er. Ähnlich sieht es Europa-Experte Freiburghaus: „Wir sind im Herzen Bauern geblieben“, urteilt Freiburghaus über sich und seine Landsleute. Die bäuerliche Angst vor einer Bedrohung des Geschaffenen durch Fremde habe der SVP den Triumph beschert. Das Ja beflügelt jetzt auch ein Volksbegehren, das die Schweiz noch radikaler abschotten will als die SVP es vorhat. Die grünen Fundamentalisten von der Ecopop-Initiative verlangen eine jährliche Begrenzung der Netto-Zuwanderung auf 0,2 Prozent der Wohnbevölkerung. Schon in zwei Jahren könnten die Schweizer über den Plan der Heimatschützer abstimmen.

Auch dass der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, noch am Abstimmungstag in der „Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag“ die Schweizer vor einem Ja gewarnt und mit Konsequenzen der EU gedroht hatte, könnte einige Unentschiedene durchaus noch ins Blocher-Lager getrieben haben – bevormunden lassen sich die Schweizer gar nicht gern.

Welche Auswirkungen hat die Abstimmung auf die Asylpolitik des Landes?

Die deutsche Arbeitsgemeinschaft von Pro Asyl bewertet das Ergebnis als „fatales Signal für den Flüchtlingsschutz in Europa“. Die Organisation macht darauf aufmerksam, dass die vorgesehenen Höchstzahlen im künftigen neuen Artikel 121 a der Bundesverfassung der Schweiz „für sämtliche Bewilligungen des Ausländerrechts unter Einbezug des Asylwesens“ gelten wird. „Eine zahlenmäßige Beschränkung des Asylzugangs wäre jedoch mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar“, kritisiert Pro Asyl. Das Recht auf Prüfung eines Asylantrags eines Schutzsuchenden sei „nicht kontingentierbar“. Das Ergebnis der Schweizer Volksabstimmung werfe die Frage auf, ob sich die Schweiz aus dem europäischen Menschenrechtsschutzsystem verabschieden werde, zumal mit der Initiative auch das Recht auf Familiennachzug begrenzt werden solle.

Wie ist das Abstimmungsergebnis in Brüssel angekommen?

Die Krise in der Ukraine und  der Militäreinsatz in Zentralafrika  sind  in den Hintergrund getreten, als die EU-Außenminister zu ihrer monatlichen Sitzung in Brüssel zusammentrafen. Beherrschendes Thema war die Schweiz, die am Vortag in einem Referendum Ja zur Begrenzung der Zuwanderung aus den Staaten der Europäischen Union gesagt und sich damit gegen eines deren zentralen Prinzipien gestellt hatte. Man könne jetzt, gab der Luxemburger Kollege Jean Asselborn den Ton vor,  „nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“. 

Zumindest in Bezug auf die Schweiz wurde die alte Forderung, Europa müsse außenpolitisch endlich mit einer Stimme sprechen, am Montag Realität. So einmütig äußern sich die 28 Chefdiplomaten ihrer Länder selten. Der Ton  war dabei deutlich härter, als ihn die EU-Kommission am Sonntagabend vorgegeben hatte, die das Ergebnis erst hatte „analysieren“ wollen. 

„Das wird Konsequenzen haben“, sagte Asselborn, der die Verbindung zwischen der Freizügigkeit der Personen und dem ungehinderten Warenverkehr und Dienstleistungsaustausch auf dem EU-Binnenmarkt herstellte, dem auch die Schweiz angehört: „Wenn das Eine fällt, fällt auch das Andere.“ Auch der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier stellte klar, dass die Eidgenossen nicht nur einen Teil der Abmachungen für sich beanspruchen könnten, und verwahrte sich gegen „Rosinenpickerei“.  Und sogar die Regierung in London, die in jüngster Zeit angesichts gestiegener Zuwandererzahlen speziell aus Bulgarien und Rumänien selbst Veränderungen bei der Auslegung des Freizügigkeitsprinzips gefordert hatte, schlug in dieselbe Kerbe: „Wir verstehen die Schweizer Bedenken in Bezug auf die Freizügigkeit“, sagte ein Londoner EU-Diplomat dieser Zeitung, „aber es ist klar, dass – wenn eine Seite ihren Teil der Abmachung verändern will – es Konsequenzen für den anderen Teil der Abmachung haben wird.“ 

Zwar wurde in EU-Kreisen  klargestellt, dass diese erst dann gezogen werden, wenn die Schweizer Regierung  und das Parlament die Vorgaben des Referendums  in ein Gesetz gegossen haben, wofür sie bis zu drei Jahre Zeit haben. „Bis dahin gilt der Ist-Zustand“, sagte ein EU-Diplomat,  dann aber drohe eine „tiefe Krise“, da „sehr viel auf dem Spiel steht“.</p><p>Sieht sich eine der beiden Seiten gezwungen, das Freizügigkeitsabkommen zwischen der EU und der Eidgenossenschaft zu kündigen, befänden sich rund eine Million EU-Bürger in der Schweiz und etwa 430000 in EU-Staaten lebende Schweizer auf einen Schlag „in einer rechtlichen Grauzone“, wie der Diplomat weiter ausführte. Außerdem greift dann sofort die sogenannte „Guillotine-Klausel“. Denn es wurden insgesamt  sieben Abkommen mit der Schweiz geschlossen, die miteinander verknüpft sind. Mit dem  Ende der unbegrenzt möglichen Einwanderung verlören damit auch  Abmachungen im Bereich des Luft- und Schienenverkehrs, der Forschung, der gegenseitigen Anerkennung von Industrienormen, des öffentlichen Auftragswesens sowie der  Landwirtschaft ihre Gültigkeit. „Ich weiß nicht, ob sich alle in der Schweiz dessen bewusst waren, als sie abgestimmt haben“, so der Brüsseler Diplomat weiter. 

Indirekt betroffen könnte auch das Schengener Abkommen über den Wegfall von Grenzkontrollen sein –  die Schweizer Initiative zielt nämlich nicht nur auf Quoten für Arbeitszuwanderer aus der EU, sondern auch für Flüchtlinge. Möglicherweise würden dafür  wieder Kontrollen  eingeführt. „Wir wollen das nicht“, stellte der Diplomat klar. Zugleich glaube er  nicht, dass die Schweizer Regierung  viel Spielraum bei der Umsetzung habe. 

Die Folgen werden aber nicht nur mittelfristig, sondern auch schon kurzfristig spürbar werden. So ist noch offen, ob die EU-Botschafter wie geplant am Mittwoch ein Verhandlungsmandat für ein neues Rahmenabkommen mit der Schweiz beschließen werden, mit dem die bisherigen Einzelverträge gebündelt werden sollen. Aus Kreisen der EU-Kommission hieß es, man wolle daran festhalten. Doch es sind die Mitgliedstaaten, die entscheiden. Und Außenminister Steinmeier sagte im Anschluss an die Sitzung mit seinen Kollegen, es werde „das bisherige Vorgehen noch einmal überprüft“. 

Überprüft wird auch, ob die Schweiz noch am lukrativen EU-Forschungsprogramm Horizon 2020  und dem Jugendaustausch Erasmus teilnehmen darf – und zwar dann, wenn die Schweizer nicht wie vereinbart bis  1. Juli die Freizügigkeitsregeln für das EU-Neumitglied Kroatien übernehmen. Und dafür hat die EU-Kommission bereits inoffizielle Hinweise aus Bern erhalten, weil das „dem Geist des Referendums zuwiderlaufen würde“. Das meinte Steinmeier wohl, als am Montag in Brüssel sagte, die Schweiz habe sich vor allem selbst geschadet.

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