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Bruttoinlandsprodukt ist die falsche Messlatte: Nachhaltiger Wohlstand lässt sich mit BIP nicht erfassen
Der Indikator hat längst ausgedient - die Ampel muss dringend einen neuen einführen. SPD und Grüne sollten sich an ihre Entwürfe dazu erinnern. Ein Gastbeitrag.
Stand:
Luca Mariaux ist Experte für nachhaltige Wirtschaft und beendet derzeit einen Master of Public Policy an der Hertie School of Governance/ University of Southern California
Die Coronakrise hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, dass Politikerinnen Zahlen einordnen und mit ihrem Handeln in Verbindung bringen können. Monatelang konnten sich Inzidenzwerte allein zur Schlagzeile aufschwingen, dann wurden die Hospitalisierungsraten und die Impfquote wichtiger.
Auch die Klimakrise erfordert ein Verständnis der Zusammenhänge von Emissionsbudgets, Ausbaupfaden erneuerbarer Energien und prognostizierten Temperaturanstiegen. In einer immer komplexer organisierten Welt ist es unumgänglich, dass Regierende einige Kernindikatoren dauerhaft im Auge behalten.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gehört nicht mehr dazu. In den laufenden Koalitionsverhandlungen sollte auch eine neue Messung des Fortschritts diskutiert werden. SPD und Grüne haben dafür jeweils ja bereits Überlegungen angestellt
Selbst konservative Stimmen halten die Kennzahl BIP nicht mehr für relevant
Entwickelt wurde das BIP in den 1930er Jahren von dem US-Ökonomen Simon Kuznets im Auftrag der US-Regierung zur Unterstützung ihrer Haushalts- und Steuerpolitik. Zu grundsätzlichen Kritikerinnen des Wirtschaftswachstums gesellen sich in letzter Zeit immer mehr konservative Stimmen, die dem BIP seine Relevanz absprechen. Nach der ehemaligen Chefin des Internationalen Währungsfonds Lagarde hat unter anderem auch der luxemburgische Rechnungshof den Fokus auf die Kennzahl scharf kritisiert.
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Jüngere gesellschaftliche Entwicklungen haben die Probleme mit der verengten Erfassung des BIP weiter verschärft: Häusliche Pflegearbeit und Erziehung erzeugen keine Geldwerte. Sie wurden in den vergangenen 80 Jahren stets volkswirtschaftlich entwertet und damit dem Fokus politischen Handels entzogen.
Dagegen wehren sich aber immer mehr Menschen, vor allem Frauen, die weltweit und auch in Deutschland den Großteil dieser Arbeit erbringen. Sie schafft Lebensqualität, ist in der Regel die Grundlage für die "klassische" Wirtschaft und sollte daher auch ökonomisch erfasst werden.

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Auch die Digitalisierung beschleunigt den Verfall der Nützlichkeit des BIP. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Solow hat schon 1987 erkannt: Man kann das Computerzeitalter überall sehen, außer in der Produktivitätsmessung. Da in der globalen Netzökonomie immer mehr Profit mit Dienstleistungen erwirtschaftet wird, die sich nicht klar einem Staat zuordnen lassen können, findet sich beispielsweise Facebooks Deutschlandgeschäft nur stark eingeschränkt im BIP der Bundesrepublik wieder. Dasselbe gilt für den wachsenden Handel zwischen Privatpersonen in der Plattformökonomie und erst recht für nicht-kommerzielle Sharingmodelle wie Couchsurfing.
Umweltverschmutzung und Artensterben werden im BIP nicht erfasst
Vor allem ist aber besorgniserregend, dass sich Umweltverschmutzung und das daraus resultierende rapide Artensterben nicht im BIP wiederspiegeln. Wenn eine Firma einen Wald abholzt und zu Produkten weiterverarbeitet, steigert sie zwar das BIP um Millionen. Sie nimmt aber gleichzeitig vielen Menschen einen Ort der Erholung und beschleunigt den Klimawandel und die Auslöschung von natürlichen Lebensräumen.
Allein in Deutschland beträgt der Anteil der sogenannten “Siedlungs- und Verkehrsfläche” fast 15 Prozent. Selbst dort, wo renaturiert wird, ist die natürliche Struktur des Bodens zerstört und erholt sich erst auf sehr lange Sicht. Niederschlag fließt schlechter ab und erhöht die Wahrscheinlichkeit für Flutkatastrophen.
Da eine kapitalistische Wirtschaft in den meisten Branchen ein exponentielles Wachstum impliziert, ist bei weiterer Fokussierung auf das BIP eine weitere Steigerung des Anteils “toter Fläche” zu erwarten – ein größeres öffentliches Interesse am Zustand der Natur hin oder her. Dieser Schwund an Lebensräumen hat für die meisten lebenden Arten erhebliche Auswirkungen. Pro Tag verschwinden laut dem Naturschutzbund etwa 150 Arten unwiderruflich von der Erde – das schnellste Artensterben, das es je gegeben hat.
Das BIP hat so lange überlebt, weil es schwer ist , einen würdigen Nachfolger zu finden
Was schafft echte gesellschaftliche Werte? Und wem lässt sich ihre Schöpfung zurechnen? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Dass das BIP so lange überlebt hat, liegt sicher auch in der Schwierigkeit begründet, würdige Nachfolger zu finden.Schon 2010 hatte der Deutsche Bundestag eine Enquetekommission damit beauftragt, eine zeitgemäße Alternative zum BIP zu erarbeiten. Dieser 844 Seiten starke Bericht schlägt ein Indikatorenset "W3" vor: Neben materiellen Wohlstand, gemessen an Einkommensverteilung, BIP pro Kopf und Staatsschulden sollen die gleichwertigen Indikatorensets "Soziales/ Teilhabe" und "Ökologie" treten. Aber elf Jahre später ist das BIP weiterhin die mit großem Abstand am häufigsten genannte ökonomische Messgröße.
Wenn man Glück als grundsätzliche Zufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation und Perspektive versteht, ist die Datenlage in Deutschland ziemlich gut: Das "Sozio-ökonomische Panel" im Auftrag des DIW Berlin befragt eine repräsentative Zahl der Deutschen seit 1984 nach ihrer Lebenszufriedenheit und den jeweiligen Umständen. Wir wissen also ungefähr, was die Bevölkerung hierzulande im Mittel glücklich macht – aber wir richten unsere Politik nicht danach aus, weil wir der Meinung sind, mit ausreichender Kaufkraft werde sich das Glück schon einstellen.
Trotz kontinuierlichem BIP-Wachstum stagnierte die Zufriedenheit in Deutschland aber über fast 20 Jahre und sank in Westdeutschland sogar. In Großbritannien oder den USA gehen Wachstum und Zufriedenheit sogar schon seit den 50er Jahren auseinander. Woran könnte das liegen?
Die Glücksforschung sieht Gleichheit gesamtgesellschaftlich als wichtig für die Zufriedenheit an
Die Glücksforschung vermutet, dass zusätzliches Einkommen die Zufriedenheit in immer kleineren Schritten steigert ("Easterlin-Paradox"). Das lässt sich nachvollziehen: Zum "Konsumstandard" der Gesellschaft aufzuschließen und beispielsweise eine feste Wohnung, ein Fahrrad oder Auto zu besitzen, ist für viele Menschen vergleichsweise wichtiger als der Besitz einer Yacht. Hier kann ein gewisses Maß an Gleichheit also potenziell die Gesamtzufriedenheit der Gesellschaft steigern.
Beim auf dem persönlichen Glücksempfinden der Menschen basierenden "World Happiness Report" der Vereinten Nationen landete Deutschland in diesem Jahr immerhin auf Platz 13, die Schweiz auf 3 und Österreich auf 10. Die skandinavischen Länder mit ihrer relativ hohen Einkommensgleichheit erreichen hier regelmäßig die höchsten Ränge. In Deutschland allerdings ist die Ungleichheit in den letzten Jahren messbar gestiegen, nochmals verstärkt durch die Coronakrise. Ein weiteres Problem beim Fokus auf das BIP ist deshalb seine mangelnde Aussagekraft zu Ungleichheit in der Gesellschaft.
Damit sind nur einige der gewichtigsten Probleme unserer übermäßigen Fokussierung auf das Bruttoinlandsprodukt beschrieben. Es basiert auf einer langen, westlich geprägten Tradition der “dualistischen” Denkweise, die den Menschen von seiner natürlichen Umwelt trennt und damit erst unsere unnachhaltige Wirtschaftsweise ermöglicht hat. Vorher haben sämtliche Religionen der Welt eine starke Verbundenheit zur Natur gelehrt. Der Begründer des Dualismus, René Descartes, ist seit 371 Jahren tot. Viele seiner Thesen sind lange widerlegt. Es ist Zeit, unsere Welt durch die Brille des 21. Jahrhunderts zu betrachten, anstatt das Märchen von einer in sich geschlossenen Wirtschaft zu reproduzieren.
Die Debatte gehört in die Koalitionsverhandlungen
Simple Lösungen wird es dabei nicht geben. Die moderne Demokratie ist zu komplex, um unsere gesellschaftlichen Ziele an einer einzigen Zahl aufzuhängen, die Zielkonflikte und subjektive Gewichtung versteckt. Aber ein neuer Zielkatalog sollte berücksichtigen, was die "Glücksforschung" über Zufriedenheit herausgefunden hat. Das ist eine Kernaufgabe der kommenden Bundesregierung. Wieso sind passende Indikatoren also kein Thema in den aktuellen Koalitionsverhandlungen mit dem Versprechen eines "gesellschaftlichen Aufbruches auf Höhe der Zeit"?
Mit ihren "Jahreswohlstandsberichten" hatten die Grünen in den vergangenen fünf Jahren ihre Gedanken zu dieser Frage vorgelegt. Auch die SPD hat in ihrem letzten "Zukunftsprogramm" einen "sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft" gefordert, bei dem wirtschaftlicher Erfolg nicht nur am BIP, sondern am "Wohlergehen der gesamten Gesellschaft und der Natur" gemessen werden sollte. Die FDP war weder für noch gegen das BIP stark engagiert. Falls die Koalition zustande kommt, liegt in ihr also trotz unterschiedlicher Interessen ein gewisses Potenzial, wichtigere Zahlen in den kommenden Jahren in den Vordergrund zu stellen und den "gesellschaftlichen Aufbruch" messbar zu machen.
Luca Mariaux
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