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In Deutschland klafft die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander.

© imago/Ralph Peters

Neustart für die Marktwirtschaft: Fünf-Punkte-Plan für einen sozialen Kapitalismus

Die Marktwirtschaft muss sich erneuern – oder sie wird scheitern. Fünf Vorschläge des Ex-SPD-Chefs.

Bei all ihrer Rationalität ist unsere moderne Welt noch immer von Mythen geprägt. Denn sie versprechen Orientierung und Halt in einer immer haltloser erscheinenden Zeit. Ein Mythos der Moderne bleibt der Nationalismus. Nationalisten sind Gläubige, die behaupten, alle kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen seien durch Protektionismus und isolationistische Kraftmeierei beherrschbar. Das ist ein ebenso anstrengendes wie zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Keine entwickelte Volkswirtschaft überlebt ohne den Anschluss an den Weltmarkt.

Keine Verachtung von internationalen Plänen zur CO2-Minderung stoppt die Erwärmung des Weltklimas und die Versauerung der Weltmeere. Kein Zaun ist hoch genug, um die Migrationsbewegungen unserer Zeit in den Griff zu bekommen. Die Probleme der Welt kann kein nationalistischer Gernegroß allein lösen.

Und auch auf der linken Seite des politischen Spektrums gibt es langlebige Mythen, die denen der Nationalisten auf paradoxe Weise ähneln: Die Produktionsmittel vergesellschaften zu wollen, ist ein nationalstaatlich gedachtes Instrument der sozialistischen Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts. Angewandt haben diese Instrumente deshalb nicht zufällig nirgendwo zu einer wirklich genossenschaftlich organisierten Volkswirtschaft geführt, sondern immer zu Verstaatlichungen. Auch hier also der sehnsuchtsvolle Blick zurück in die Zeiten des Nationalstaates.

In der Praxis haben aber gerade diese verstaatlichten Nationalökonomien dem internationalen Wettbewerb weitaus schlechter standhalten können als Volkswirtschaften, deren Produktionsmittel überwiegend in privater Hand verblieben waren. Am Ende landeten sie im Bankrott und in erheblichen sozialen und ökologischen Verwerfungen.

Warum funktionieren nationale Mythen wieder?

Warum funktionieren diese nationalen Mythen rechts und links wieder? Die Antwort ist einfach: Weil es Gründe dafür gibt, die in der Realität den Resonanzraum für politische Mythen schaffen - die Finanzkrise, obszöne Managergehälter, Altersarmut, mangelnde soziale Mobilität nach oben und steigende soziale Ungleichheit. Kurz gesagt: Wo die soziale Marktwirtschaft verliert, gewinnt der Mythos radikaler Forderungen.

Wenn wir verstehen wollen, warum Mythen in allen Teilen der Welt wieder Anhänger finden, müssen wir eine weitere Fabel der Moderne hinterfragen: Der Mythos der unaufhaltbaren Globalisierung liefert das Gegenbild zum nationalstaatlichen Kontrollanspruch. Auch die Propheten der Globalisierung sind hochmütig. „Lasst alle Hoffnung fahren, eure Regeln im globalen Zeitalter behalten zu können“, heißt es in der üblichen Globalisierungserzählung. Wer sich nicht fügt, geht unter.

„Pass dich an!“, lautet der neue kategorische Imperativ dieser Glaubenslehre. Dass wir den Vertretern dieser Ideologie den Titel „Neoliberale“ verliehen haben, ist schon eine bittere Ironie. Denn die eigentlichen „Neo-Liberalen“ waren doch die, die sich gegen den Nationalismus der Alt-Liberalen erfolgreich zur Wehr gesetzt und die Öffnung zu den Sozialdemokraten betrieben hatten.

Märkte brauchen Regeln

Märkte brauchen Regeln, sonst droht Marktversagen. Das wussten gerade die liberalen Marktökonomen. Mietpreisexplosionen, Bodenspekulation, Klimawandel und auch Altersarmut erwachsen aus Marktversagen. Märkte richten sich eben nach Knappheitsgraden und ihren Preisen und nicht nach den Bedürfnissen nach öffentlichen Gütern wie innerer und sozialer Sicherheit, ausreichend bezahlbarem Wohnraum, Bildung, Umwelt und anderem mehr. Es sei denn, staatliche Politik setzt den Märkten Regeln oder gibt dem Marktversagen einen Preis.

Die Mythologie der alternativlosen Verbindung von Globalisierung und Deregulierung taugt auch nicht für die Zukunft. Der globalisierte Kapitalismus unserer Tage droht die Unabhängigkeitserklärungen der großen demokratischen Revolutionen, die Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte und die Errungenschaften der Arbeiterbewegungen zu kassieren.

Die alten sozialen Fragen tauchen in der Globalisierung von Wirtschaft und Politik letztlich nur in neuem Gewande auf. Insofern ist der erneute Kampf um die angemessene Antwort auf die sozialen Fragen wie schon einmal im 19. und 20. Jahrhundert durchaus auch ein erneuter Kampf gegen autoritäre und unterdrückende Machtapparate. Man kann ihn nur nicht mit den gleichen (untauglichen) Mitteln führen wie damals.

Zu "Eigentum verpflichtet" gehört auch die Umverteilung von Reichtum

Wer den Resonanzraum für Mythen wieder kleiner machen will, muss deshalb die Idee der sozialen Marktwirtschaft erneuern. „Eigentum verpflichtet“, heißt es im Grundgesetz. Dazu gehört auch die Umverteilung von Reichtum, der ja nie allein privat erarbeitet werden kann, sondern immer der Voraussetzung eines funktionierenden Gemeinwesens und der Qualität der Arbeit vieler bedarf. Wer das infrage stellt, der darf sich nicht wundern, wenn irgendwann die Scheiben klirren.

Die Grundlagen der großen Erfolge der Idee der sozialen Marktwirtschaft liegen aber eben auch im letzten Jahrhundert, als der soziale Ausgleich noch mittels nationaler Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik erreicht werden konnte. Schon Europa und allemal der Globalisierung fehlen ähnliche Steuerungsinstrumente. Deshalb erweisen sich die sozialen Marktwirtschaften oft als zu schwach, um den Kapitalismus erneut zu zähmen und ihm soziale und ökologische Grenzen setzen zu können. Die Antwort auf das Marktversagen und damit auf die Gestaltungslücken der sozialen Marktwirtschaft ist deshalb eine stärkere Europäisierung und Globalisierung von staatlich gesetzten Marktregeln.

Eine europäische CO2-Steuer auf Importe

Deshalb brauchen wir natürlich eine europäische CO2-Steuer auf Importe aus Ländern, die keinerlei Klimaschutz betreiben und deshalb mit ökologischem Dumping vor allem unsere Rohstoffindustrien unter einen unfairen Wettbewerbsdruck setzen. Die Einnahmen sollten dann als Fördermittel an die europäischen Unternehmen gegeben werden, die in Rohstoffeffizienz und Klimaschutz investieren. Und wer diese CO2-Steuer nur national erhebt, sollte sie als Klimaprämie an die Bevölkerung zurückgeben. Den gleichen Betrag für alle, damit sich Klimaschutz mit gerechter Verteilungspolitik verbindet. Wer viel verbraucht, zahlt viel, bekommt aber nur wenig zurück. Bei allen anderen muss es umgekehrt sein.

Wir brauchen eine europäische Besteuerung der Finanzmärkte, gemeinsame europäische Instrumente zur Bekämpfung von Konjunktur- und Strukturkrisen und eine Abschaffung der Gerechtigkeitswüsten in Europa, die wir meist als „Steueroasen“ bezeichnen. Nur das bringt uns die Mittel, Schritt zu halten bei Forschung, Technologie und Bildung mit Giganten wie China oder in wirklich erkennbarem Maße in Afrika zu investieren, um dem Kontinent mehr Stabilität und Unabhängigkeit zu ermöglichen. Und nur die Stärkung des Währungsraums des Euro schafft uns mehr Souveränität gegenüber den drohenden Handelspraktiken der USA.

Insofern ist die Globalisierungskritik Zeichen eines neuen historischen Fortschritts. Es kommt in dem vor uns liegenden Jahrzehnt ganz offenkundig darauf an, eine globale Ordnung zu etablieren, die Bedürfnisse nach Sicherheit und Gerechtigkeit befriedigen kann.

Fünf-Punkte-Plan für einen sozialen Kapitalismus

Ex-Außenminister Sigmar Gabriel ist Autor der Holzbrinck-Gruppe, zu der auch der Tagesspiegel gehört.
Ex-Außenminister Sigmar Gabriel ist Autor der Holzbrinck-Gruppe, zu der auch der Tagesspiegel gehört.

© dpa/Kai Nietfeld

Der Hinweis auf die Europäisierung und Globalisierung darf allerdings auch keine Ausrede für nationales Nichtstun sein. Das Ziel muss sein, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die technologische Stärke und die soziale Sicherheit in Deutschland zu erhöhen – nicht auf Kosten unserer Nachbarstaaten in Europa, sondern damit die Bundesrepublik mehr in die Europäische Union investieren kann. Das kann Deutschland tun:

1. Eine Unternehmenssteuerreform herbeiführen, bei der wir als Investitionsstandort wettbewerbsfähig bleiben. Die letzte große Unternehmenssteuerreform hat der SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2000 zusammen mit den Grünen auf den Weg gebracht. Seitdem ist im Wesentlichen nichts mehr geschehen. Mit fast 30 Prozent Unternehmenssteuern gegenüber 15 Prozent zum Beispiel in den USA verlieren wir einfach massiv an Attraktivität. Anfangen sollten wir mit einer breiten und unbürokratischen steuerlichen Forschungsförderung vor allem in mittelständischen Betrieben.

2. Die Entlastung der Arbeitnehmerhaushalte ist auch notwendig. Aber weniger bei den Steuern als bei den Sozialabgaben, denn die belasten laut OECD den Faktor Arbeit in Deutschland weit mehr als in anderen Ländern. Wie wäre es zum Beispiel, wenn wir eine Freistellung des Existenzminimums nicht nur in der Steuer, sondern auch bei den Sozialabgaben einführen würden? Denn die sind – mit Ausnahme der Krankenversicherung – weitgehend blind für die Frage, ob jemand Kinder hat oder nicht. Wir würden damit pro Kind die Familien um rund 8000 Euro pro Jahr entlasten. Im Gegenzug würden wir manchen Euro bei den speziellen Familienprogrammen einsparen und es macht Eltern vermutlich stolz, wenn sie ihre Kinder vom eigenen Nettoeinkommen ernähren und erziehen können und nicht auf die Beantragung von staatlichen Hilfsprogrammen angewiesen sind. Das kostet rund 20 Milliarden Euro pro Jahr, denn die Ausfälle in der Sozialversicherung müssen ja ausgeglichen werden. Aber wenn wir uns zutrauen, in den kommenden Jahren den Militärhaushalt um 40 Milliarden (und mehr) zu verdoppeln, dann darf uns die Familienförderung nicht schrecken. Kinder kommen Gott sei Dank häufiger als die Russen. Den Soli sollte man dagegen nicht abschaffen, sondern daraus eine Förderung für die kleinen Dörfer und Gemeinden in West- und Ostdeutschland machen. Denn in politischen Sonntagsreden für die Einheitlichkeit der Lebensbedingungen einzutreten, im Alltag aber nichts für die Daseinsfürsorge in den ländlichen Regionen zu tun, führt nur zu weiteren Spaltungen in unserer Gesellschaft. Heimat erhalten und schaffen ist wichtig gerade in einer Zeit, wo Menschen zunehmend den Eindruck haben, die Welt drehe sich immer schneller. Menschen brauchen festen Grund unter den Füßen und gut geführte Städte und Gemeinden schaffen das. Verwahrloste Gemeinwesen dagegen produzieren verwahrloste Köpfe und Seelen.

3. Und zur Gerechtigkeit in Deutschland gehört auch, dass wir umverteilen. Privater Reichtum entsteht nie von allein, sondern er braucht als Voraussetzung ein funktionierendes Gemeinwesen und die Leistungsfähigkeit ganz vieler Menschen. Deshalb ist Umverteilung fair und gerecht. Es waren übrigens die Ordoliberalen, die sich immer für eine hohe Erbschaftssteuer eingesetzt haben, weil Erben für sie leistungsloses Einkommen war, das den Markt verzerrt. Eine für alle geltende Erbschaftssteuer mit niedrigen Steuersätzen wäre deshalb richtig. Letztlich ist es aber egal, welches Instrument am Ende genutzt wird. Eines muss allerdings in jedem Fall passieren: Die Spekulation mit dem begrenzt zur Verfügung stehenden Grund und Boden muss durch den Staat beendet werden. Das Geschäftsmodell der großen Immobilienkonzerne basiert auf dieser Spekulation ihrer Kapitalgeber. Am besten ist deshalb die vollständige steuerliche Abschöpfung dieser Spekulationsgewinne. Wer das nicht will, der kann die tägliche Enteignung der Mieter wirklich nur noch über die Enteignung der Immobilienkonzerne stoppen.

4. Bund und Länder sollten sich außerdem – wie jetzt bereits beim Hochschulpakt geschehen – auf langfristige Investitionsprogramme in die öffentliche Infrastruktur einigen: in Straßen, Schienenwege, Wasserwege, Flughäfen, digitale Infrastruktur, in Forschung, Technologie und eine Modernisierung unserer Schulen und Hochschulen; sie sind wichtiger als die berühmte „schwarze Null“. Das kommende Jahrzehnt muss eine Dekade der Investitionen werden. Dafür allerdings bedarf es auch eines Gesetzes zur Planungsbeschleunigung. Zehn Jahre für den Ersatz einer Brücke, 15 Jahre für einen Bahnhof und viele ähnliche Beispiele zeigen eines: Bei großen Infrastrukturmaßnahmen regiert nicht das Gemeinwohl, sondern viele Tausend Einzelinteressen. Der Ausbau des individuellen Rechts(wege)staates hat jedem einzelnen Bürger Vorteile gebracht – und das Gemeinwesen lahmgelegt. Für national bedeutsame Infrastrukturprojekte müssen wir das wieder ändern.

5. Und natürlich gehört dazu auch eine industrielle Strategie, die sowohl den Mittelstand fördert als auch Unternehmenszusammenschlüsse ermöglicht, die mit den wirklichen Giganten aus China und den USA mithalten können. Auch wenn weniger Menschen im verarbeitenden Gewerbe und der Industrie arbeiten: Hier gründet der Wohlstand unseres Landes. Und heute auch seine Risiken, denn wo wir früher unsere Exportstärke feiern konnten, ist sie angesichts drohender Handelskriege heute unsere Achillesferse. Umso wichtiger ist es, dass wir die politischen Rahmenbedingungen klären, unter denen industrielle Wertschöpfungsketten – von der Rohstoffindustrie bis zur „Industrie 4.0“ – aus Deutschland weltweit Erfolg haben können. Das – und nicht eine wachsende Beteiligung des Staates in Form von Staatsfonds oder Sozialisierungen – ist eine nachhaltige Industriepolitik.

Es geht um den Wohlstand von morgen. Unser wirtschaftlicher Erfolg ist die Voraussetzung für soziale Sicherheit und ökologische Nachhaltigkeit. Wir geben uns heute zu sehr zufrieden mit der Verteilung dessen, was wir haben. Und manchmal schwelgen wir in der Erinnerung an das Gestern. Wirklich anstrengend wird Politik aber erst, wenn sie über das Morgen nachdenkt und entsprechend handelt.

Ex-Außenminister Sigmar Gabriel ist Autor der Holtzbrinck-Gruppe, zu der auch der Tagesspiegel gehört. Er war von 2009 bis 2017 Vorsitzender der SPD.

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