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Jugendliche Teilnehmer der Klima-Kundgebung "Friday for Future" in Berlin

© dpa/Christoph Soeder

Pfingsten und die Politik: Demokratie beginnt erst da wirklich, wo die Bewegung endet

Erkenntnis, Missionierung und Gemeinschaftsbildung – in diesen drei Schritten entstehen auch politische Bewegungen. Ein Kommentar zu Pfingsten.

Von Anna Sauerbrey

Vielleicht ist Pfingsten der Politik in diesem Jahr besonders nah. Denn die Pfingstgeschichte beschreibt, wie politische Bewegungen entstehen und wachsen. Sie liefert quasi das Modell für die Klimabewegung, die Europa-Bewegung oder Donald Trumps „America First“ und zeigt die Gefahren und Schwächen, die politische Bewegungen bergen.

An Pfingsten sitzen die Jünger in Jerusalem zusammen, als plötzlich ein „Brausen vom Himmel“ das Haus einnimmt und der Heilige Geist sie erfüllt. Sie beginnen in allen Sprachen zu sprechen. Die Jünger treten vor die Bevölkerung, und Petrus verkündet, dass sie erkannt haben, dass Jesus der „Herr und Christus“ sei, der Messias. Er fordert die Menschen auf, sich taufen zu lassen und damit der Gemeinschaft der Erkenntnis beizutreten. Noch am ersten Tag, so erzählt es das Neue Testament, schließen sich 3000 Menschen dieser Gemeinschaft an.

Erkenntnis, Missionierung und Gemeinschaftsbildung – in diesen drei Schritten entstehen auch politische Bewegungen. In den vergangenen Jahren und Monaten ist das an vielen Orten der Welt geschehen: Eine Zukunft, sagen die Anhänger von "Fridays for Future", haben wir nur, wenn wir mehr für den Klimaschutz tun. „Europa ist die Antwort“ – plakatierte die SPD im Wahlkampf und nahm das Heilsversprechen von „Pulse of Europe“ auf. „America First“ verspricht Donald Trump – und ihr werdet von den Unbilden der Globalisierung geheilt.

Wichtig für den Erfolg der Bewegung, das führt die Pfingstgeschichte modellhaft vor, ist erstens die Verknüpfung von Erkenntnis und Erlösung: Wer sich der (echten oder vermeintlichen) Wahrheit anschließt, erfährt das Heil („Rettet das Klima und ihr werdet gerettet“). Zweitens muss die „Erkenntnis“, die Antwort auf die Welt, eine Universallösung sein („Europa ist die Antwort“). Drittens ist unerheblich, ob die erkannte Wahrheit wirklich eine ist oder nicht. Wichtig ist, den Eindruck zu vermitteln, es handele sich um eine quasi offenbarte, also unangreifbare Wahrheit („America First“). Auch die Pfingstgeschichte ist tautologisch: Der Heilige Geist ermöglicht die Erkenntnis und ist Beleg für die Wahrheit der Erkenntnis. Die Erkenntnis selbst wird so heilig und unangreifbar.

Für eine Demokratie ist das Pfingstmodell problematisch

Das Behaupten einer Offenbarung ist eine ziemlich bequeme Art der Begründung für ein politisches Ziel: Sie ist nicht das Produkt von Nachdenken oder Welterforschung oder Dialog. Sie wird einfach „ausgegossen“, sie zwingt sich auf und ist unbestreitbar.

Für eine Demokratie ist das Pfingstmodell problematisch. Das gilt sowohl für die Verabsolutierung einer (echten oder vermeintlichen) Wahrheit wie für das Heilsversprechen, das zur Gemeinschaftsbildung führt. Die Gemeinschaftsbildung durch Missionierung ist ein ebenso vordemokratisches wie vorpolitisches Konzept.

In der modernen Gesellschaft ist jede „Offenbarung“ zunächst Hypothese, sie muss sich Zweifeln und Tests aussetzen. Stellt sie sich als richtig heraus, ist damit – anders als in der Pfingstgeschichte und anders als von einigen politischen Bewegungen suggeriert – auch keinesfalls schon Erlösung erreicht. Der politische Prozess beginnt erst mit der Erkenntnis, nämlich mit dem Aushandeln der Lösung (und es gibt oft mehrere). Für dieses Aushandeln sind politische Bewegungen nicht gewappnet. Man könnte sagen: Die Demokratie beginnt erst da wirklich, wo die Bewegung endet.

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