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Politik: Protokoll einer Verstörung Von Tissy Bruns

Im Osten gibt es jeden Tag was Neues, jedenfalls für die Meinungsforscher. Ihre Prognosen aus den AugustWochen haben die SPD das Fürchten gelehrt: weniger als zehn Prozent in Sachsen, überflügelt von der PDS in Brandenburg.

Im Osten gibt es jeden Tag was Neues, jedenfalls für die Meinungsforscher. Ihre Prognosen aus den AugustWochen haben die SPD das Fürchten gelehrt: weniger als zehn Prozent in Sachsen, überflügelt von der PDS in Brandenburg. Und die CDU aus dem Stimmungshoch geholt: Verlust der absoluten Mehrheit in Sachsen, schwerer Rückschlag in Brandenburg. Eine Woche vor der Wahl ist alles offen. Die ohnehin wechselfreudigen Ostdeutschen waren noch nie so in Bewegung wie vor diesen Landtagswahlen. Fest steht: Die regierenden Parteien werden in beiden Ländern verlieren.

Die Motive der bewegten Wähler lassen sich auf den kurzen Begriff Hartz IV bringen; sie richtig zu deuten bleibt trotzdem eine schwierige Sache. Georg Milbradt, der sächsische Ministerpräsident mit der festen Modernisierer-Hand hat sich nervös machen lassen und hätte sich beinah auf eine Montagsdemo verirrt. Der Brandenburger Landeschef Matthias Platzeck hält Hartz IV für ein Ventil, an dem sich lang angestaute Gefühle der Zurücksetzung entladen.

Keine Frage: Die ostdeutschen Wähler nehmen beide Volksparteien für Hartz IV in Haftung und es geht dabei um viel mehr als die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe. Es sind nicht nur die oft beschriebenen Besonderheiten in den neuen Ländern, die diese Wählerquittung heftig ausfallen lassen. Brandenburg und Sachsen sind in diesem Wahlherbst durchaus bundesdeutsche Avantgarde. Erstens, weil sie aus Erfahrung illusionsloser sind als die Westdeutschen. Zweitens, weil der wahlpolitische Trend in ihre Richtung geht. Dem Wechselwähler gehört die Zukunft – eher werden die westdeutschen Wähler so wankelmütig wie die ostdeutschen als umgekehrt.

Hartz IV ist die Chiffre für das Ende des ostdeutschen Traums. Hartz IV heißt: Die Menschen in den neuen Bundesländern werden im bundesdeutschen Wohlstandsparadies, das Sicherheit durch Arbeit oder Sozialtransfers gewährleistet, nicht in fünf und nicht in zehn Jahren ankommen. Sie werden niemals dort ankommen. Denn dieses Wohlstandsland wird es künftig nicht mehr geben, auch im Westen nicht. Die Ostdeutschen erleben eine merkwürdige Variante des alten SED-Worts vom Überholen, ohne einzuholen. Sie müssen vorangehen beim verspäteten Versuch, den überstrapazierten Sozialstaat durch Gesundschrumpfung zu retten, ohne die Früchte des satten Wohlfahrtsstaats je richtig genossen zu haben. Denn vielen Ostdeutschen konnte das vereinigte Deutschland nur noch die fragwürdige Sicherheit der Sozialtransfers bieten. Nicht aber die Vorteile gut geschützter Arbeitsverhältnisse, die in den alten Bundesländern nach Kräften verteidigt werden. Während dort um die warme Jacke gekämpft wird, haben die Ostdeutschen das Gefühl, ihnen werde das letzte Hemd genommen.

Es liegt auf der Hand, dass die Reaktion darauf emotional aufgeladen sein muss. Eine Woche später wird die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen das Bild einer Gesellschaft abrunden, die in Ost und West ihre Verstörung zu Protokoll gibt. Eine Momentaufnahme, keine politische Weichenstellung. Die liegt in den Händen von SPD und Union. Wenn beide verlieren, hätte das den unschätzbaren Vorteil, die opportunistischen Versuchungen zu begrenzen. Nur wenn die Politik jetzt durchhält, haben die Menschen die Chance, nach der großen Verstörung auch die Erfahrung zu machen: Das Gesundschrumpfen hilft.

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