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Trauer um Terroropfer. In Strasbourg und weiteren französischen Städten haben am Sonntag tausende Menschen des Lehrers Samuel Paty gedacht, den ein Islamist enthauptet hatte.

© Frederick Florin/AFP

Radikalisierte Muslime in Deutschland: Für sie ist der Mörder aus Frankreich ein Idol

Deutsche Islamisten feiern bei Telegram den Attentäter, der den Lehrer Samuel Paty enthauptet hat. Vor allem junge Muslime driften in Extremismus ab.

Von Frank Jansen

Die Tat war grauenhaft, dennoch oder gerade deshalb wird der Täter gefeiert. „Darf ich vorstellen: der Löwe aus Frankreich“, schreibt ein deutscher Nutzer des Messengerdienstes Telegram über den jungen Islamisten, der vergangenen Freitag im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine den Lehrer Samuel Paty enthauptet hat. 

Nichts anderes als die Ehre des Propheten Mohammed „bewegte sein eifersüchtiges Herz“, postete ein anderer Muslim bei Telegram, „möge Allah dich zu seinen Shuhada zählen. Wahrlich bist du zu beneiden für deine Tatkräftigkeit.“ Shuhada ist im Arabischen der Plural für „Märtyrer“.

Die Polizei hatte den 18-jährigen Mörder kurz nach der Tat erschossen, als er die Beamten, die ihn festnehmen wollten, bedrohte. Für militante Islamisten ist der russisch-tschetschenische Attentäter Abdullah Anzorov ein Idol. Und ein Vorbild, dem womöglich weitere junge, radikalisierte Muslime nacheifern werden.

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Wie gefährlich dieses Milieu in Deutschland ist, zeigt schon ein Blick auf einschlägige Straftaten. Im März 2011 verübte der gerade 21 Jahre alte gewordene Kosovare Arid Uka das erste tödliche islamistische Attentat in der Bundesrepublik. Uka erschoss am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten und verletzte zwei weitere schwer. In der Nacht vor der Tat hatte sich der schon länger in Deutschland lebende Mann mit islamistischen Videos aufgeputscht.

Die Bomben sollten in Regionalzügen explodieren

Im Juli 2006 stellten zwei in Deutschland studierende Libanesen, 20 und 21 Jahre alt, im Kölner Hauptbahnhof zwei Bomben in Regionalzügen ab. Die Passagiere blieben nur wegen eines technischen Defekts bei den in Trolleys versteckten Sprengsätzen von einer Katastrophe verschont. Tatmotiv der Libanesen war die Wut über den Nachdruck der verhassten Mohammed-Karikaturen in deutschen Zeitungen, darunter dem Tagesspiegel. 

Ein ähnliches Motiv hatte jetzt der Mörder des Lehrers in Frankreich. Samuel Paty hatte im Unterricht beim Thema Meinungsfreiheit die Karikaturen angesprochen. Zunächst wurde Paty im Internet bedroht und beschimpft, dann stach der junge Flüchtling Abdullah Anzorov auf ihn ein.

Ein jämmerliches Bild

Wie die Sicherheitsbehörden warnt auch Claudia Dantschke, eine der führenden Islamismus-Expertinnen aus dem Spektrum der Nichtregierungsorganisationen (NGOs), „das kann in Deutschland genauso passieren“. Dantschke leitet die 2011 gegründete Beratungsstelle „Hayat“ (Leben), die sich mit den härtesten Islamsten, den Salafisten, und deren Angehörigen befasst. 

Zur Klientel zählen auch Dschihadisten, die Anhänger von Terrororganisationen wie dem „Islamischen Staat“ und Al Qaida. Das Bild, das Dantschke im Laufe der Jahre von den selbsternannten „Löwen“ gewonnen hat, ist allerdings jämmerlich.

Keine Ahnung vom Islam

„Meistens haben die keine Ahnung vom Islam“, sagt sie und spricht spöttisch von „Passmuslimen“. Das Gros der Männer im Milieu sei zwischen 17 und 27 Jahre alt. Die Jungs, die nach Syrien und Irak zum IS gereist sind, „waren zwischen 18 und 21“, sagt Dantschke. Die Frauen seien noch jünger gewesen, „von 16, 17 Jahren bis 21“. 

Mädchen stiegen früher in die salafistische Szene ein, „schon mit 13 oder 14“. Warum? Mädchen seien „früher entwickelt“, sagt Dantschke. Aber sie bescheinigt auch den jungen Salafistinnen „ganz, ganz naive Vorstellungen vom islamischen Leben“. Der „Mudschahid“, der islamistische Kämpfer, sei für die jungen Frauen „ein Popstar wie Justin Bieber“.

Wie groß das Milieu junger radikalisierter muslimischer Männer und Frauen ist, lässt sich für Dantschke nicht seriös beziffern. Offensichtlich ist allerdings, dass es sich um eine kleine Minderheit handelt. 

In der Bundesrepublik leben mindestens viereinhalb Millionen Muslime, der Verfassungsschutz stellt bei der Salafistenszene etwas mehr als 12.000 Männer und Frauen fest. Das Wachstum verlief rasant, 2011 waren es erst 3800. Der Anteil der Frauen sei auf über 13 Prozent gestiegen, heißt es im Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz für 2019. Die Behörden tröstet nur wenig, dass die Szene, wie es in Sicherheitskreisen heißt, in diesem Jahr offenbar stagniert.

Jugendliche auf der Suche nach Orientierung

Weder der Verfassungsschutz noch Dantschke signalisieren Entwarnung. Die Ursachen für Radikalisierung verschwinden nicht. „Es gibt Jugendliche, die kommen aus sehr autoritären Familien und haben keinen Freiraum“, berichtet Dantschke. 

„Und es gibt die Jugendlichen aus eher losen Familien, wo der Halt fehlt.“ Die Jungen und Mädchen aus beiden Familientypen „suchen jemanden, der sie wahrnimmt, der sie ernst nimmt, der ihnen eine Lebensperspektive bietet“. Dantschke hat die Erfahrung gemacht, „die sind nicht auf der Suche nach dem Islam, die sind auf der Suche nach Orientierung, nach Aufmerksamkeit“. Und landeten bei den Salafisten.

Aus Sicht von Dantschke ist die Situation in Frankreich allerdings noch bedrohlicher als in Deutschland. Die soziale Ausgrenzung junger Muslime aus den „Banlieues“, den Hochhaussiedlungen am Rande von Paris und weiteren Großstädten, sei härter als in der Bundesrepublik. Der französische Staat reagiere auf Protest meist mit Repression, „das geht nicht an die Ursachen ran“. Deutschland sei mit dem staatlich geförderten Netzwerk der Prävention besser aufgestellt.

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