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Eine Begegnung der Generationen ist während der Coronakrise oft nur durch die Glasscheibe möglich.

© Jens Büttner/dpa

Lockerungen für Alte sind riskant: Wir brauchen einen besseren Schutz für Oma und Opa

Je mehr wir den Lockdown durch persönliche Verhaltensregeln ersetzen, desto größer wird das allgemeine Infektionsrisiko. Ein Gastbeitrag.

Alexander S. Kekulé hat den Lehrstuhl für Medizinische Mikrobiologie und Virologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg inne und ist Direktor des Instituts für Mikrobiologie in Halle.

In der gegenwärtigen Lockerungsdebatte zeichnet sich eine Zauberformel ab, die nahezu jedes Problem zu lösen scheint. Abitur schreiben – ja, aber mit Abstand. Massagepraxis – ja, aber vorher Händewaschen. Taxi fahren – ja, aber mit Maske. Und natürlich: nicht die Hände geben und in die Armbeuge husten.

Wer monatelang die Abstands- und Hygieneregeln (von den Masken einmal abgesehen) gepredigt hat, kann jetzt schlecht Nein sagen, wenn Bürger und Unternehmen diese Regeln als Sesam-öffne-dich verwenden, um ihre Freiheiten zurückzubekommen. Also wird gelockert, was das Zeug hält, Hauptsache Seife plus Ellenbogen plus einskommafünf.

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Dass die persönlichen Verhaltensregeln das Infektionsrisiko senken, steht außer Zweifel. Ebenso klar ist jedoch, dass diese vergleichsweise milden Maßnahmen weniger wirksam sind als der Lockdown mit seinen strengen Kontaktbeschränkungen.

Beispielsweise schützen OP-Maske und 1,5 Meter Abstand nicht vor der luftgetragenen (aerogenen) Übertragung durch feinste Tröpfchen in geschlossenen Räumen. Mehrere Untersuchungen legen nahe, dass die gefürchteten Superspreading-Ereignisse, bei denen sich besonders viele Menschen auf einmal infizieren, durch solche Aerosole entstehen.

Beim Mannschaftssport kann man die Regeln kaum einhalten

Davon abgesehen werden die Verhaltensregeln nicht von allen eingehalten. In bestimmten Situationen, etwa beim Frisör oder im Mannschaftssport, können sie kaum hundertprozentig befolgt werden. Daraus ergibt sich eine unbequeme Wahrheit: Je mehr wir den Lockdown durch persönliche Verhaltensregeln ersetzen, desto größer wird das Infektionsrisiko für die Bevölkerung.

Dieses Risiko trifft nicht alle Menschen in gleichem Maße. Für über 70-Jährige liegt die Wahrscheinlichkeit, an einer Covid-19-Erkrankung zu sterben, im Bereich von 10 Prozent. Bestimmte, chronische Leiden wie schwere Herzkreislauferkrankungen, Immunschwäche oder extremes Übergewicht stehen ebenfalls mit einer erhöhten Letalität durch Covid-19 in Zusammenhang (wobei allerdings nur ein Teil der Menschen mit solchen Vorerkrankungen zur Risikogruppe gehört).

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Für alle anderen Menschen liegt das Sterbensrisiko durch Covid-19 etwa hundertmal niedriger, also in der selben Größenordnung wie das der Grippe. Alte und Schwerkranke tragen die größte Last der Lockerungsmaßnahmen, während die Jüngeren und Gesunden am meisten von ihnen profitieren.

Am harmlosesten verläuft die Infektion mit dem neuen Coronavirus bei Kindern und Jugendlichen. In dieser Altersgruppe gibt es weltweit nur wenige Todesfälle. Kinder unter 14 Jahren zeigen wahrscheinlich häufig gar keine Symptome, können aber andere anstecken.

Kitas als Durchlauferhitzer

Weil Kinder sich nicht an Abstands- und Hygieneregeln halten, sind Kitas und Grundschulen bereits seit der Spanischen Grippe von 1918 als Durchlauferhitzer der Seuchenausbreitung bekannt. Deshalb war es auch in der aktuellen Pandemie geboten, Kitas und Grundschulen als erstes zu schließen (was allerdings zunächst nicht alle Fachleute so sahen). Doch wie sollen wir sie jetzt wieder öffnen, ohne dafür mit einem Anstieg der Todesfälle zu bezahlen?

Mein Vorschlag, ältere Menschen besonders zu schützen und damit das durch die Öffnung von Kitas und Grundschulen (und auch andere Lockerungsmaßnahmen) entstehende Risiko zu senken, stieß bei der Nationalen Akademie der Wissenschaften auf deutliche Ablehnung. Demnach wäre „etwa eine vorbeugende Segregation einzelner Bevölkerungsgruppen, beispielsweise älterer Menschen, allein zu deren eigenem Schutz als paternalistische Bevormundung abzulehnen“.

Den Gegenvorschlag der Leopoldina, Grundschüler in Hygiene zu unterrichten und mit Masken auszustatten, haben wiederum Pädagogen als unrealistisch kritisiert. Andererseits besteht Einigkeit, dass die Kinder nicht länger im Lockdown gehalten werden können.

Flexible Maßnahmen sind erforderlich

Um aus diesem Dilemma zu kommen, sind flexible Schutzmaßnahmen erforderlich, die Menschen mit besonders hohem Risiko vor Infektionen bewahren, ohne ihre Freiheit unverhältnismäßig einzuschränken. Dazu müssen Hochaltrigen professionelle Infektionsschutzmasken (FFP2-Masken) zur Verfügung gestellt werden, mit denen sie sich unter Menschen begeben und am sozialen Leben teilnehmen können.

In Altenheimen müssen Besucher und das Pflegepersonal vorsorglich auf Coronavirus getestet werden, auch wenn sie keine Symptome haben.

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Effektive Schutzkonzepte müssen auch die Familien des Pflegepersonals einbeziehen, die nicht selten unter prekären Bedingungen leben. Auch im privaten Bereich können Risikopersonen wesentlich besser geschützt werden, wenn Schnelltests auf Covid-19 für jedermann zugänglich gemacht werden.

Müssen Athleten Privilegien genießen?

Die Testung symptomfreier Personen, die das Robert Koch-Institut ablehnt, ist in vielen Krankenhäusern bereits gang und gäbe, um Infektionen bei Personal und Patienten schnell zu erkennen. Sie ist auch ein Kernbestandteil des Konzepts der Deutschen Fussballiga für den Schutz von Geisterspielen gegen das Virus. Was für Klinikpersonal und Athleten möglich ist, darf nicht ausgerechnet den Risikogruppen vorenthalten werden.

Natürlich kann auch dieses smart distancing nicht alle Menschen mit erhöhtem Risiko wirksam gegen das Virus schützen. Im Zweifel sollte mit dem behandelnden Arzt besprochen werden, ob eine FFP2-Maske, vorsorgliche Testung von Kontaktpersonen oder andere besondere Schutzmaßnahmen sinnvoll sind.

Der hier vorgeschlagene Weg ist jedoch allemal besser, als die Kitas und Grundschulen wieder aufzumachen, ohne Menschen mit besonderem Risiko auch besonderen Schutz anzubieten. Denn eines steht fest: Bei kleinen Kindern funktioniert das Sesam-öffne-dich der Lockerungsdebatte nicht.

Alexander S. Kekulé

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