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Schwäbischer Zorn: Stuttgart 21: Wenn es unterirdisch wird

Fünf Milliarden? Oder sieben? Oder elf? Wie teuer es werden könnte, in Stuttgart einen neuen Bahnhof zu bauen, weiß niemand. Immer neue Zahlen erschüttern das Vertrauen der Bürger. Die protestieren – und stellen die Machtfrage. Seit 1988 wird geplant. Soll das umsonst gewesen sein?

Freitagmorgen ist passiert, was alle erwarteten, der Abriss hat begonnen, zuerst kommt das Vordach weg. Natürlich läuft das volle Protestprogramm, Beten, Baumumarmen, Sitzblockaden und Anketten. Angeblich sind Coaches – so heißt das korrekt – von Greenpeace angereist, Trainer, die mit den Demonstranten das Anketten an Bauzäunen üben. Wichtig ist, dass man Windeln trägt, für den Fall, dass man mal muss. Angekettet kann man ja nicht aufs Klo.

Sie demonstrieren seit Wochen fast an jedem zweiten Tag, und fast in jeder Woche steigen die Teilnehmerzahlen, 4000, 6000, 12 000. Am Freitagabend waren es bei einer Menschenkette schon etwa 18 000. Es kommen alte Frauen, Geschäftsleute mit Schlips und Anzug, Pfarrer, eine ehemalige Spitzensportlerin, eine Lyrikerin. Seit der 38. Montagsdemonstration sind die Stuttgarter Gehörlosen mit einer Delegation vertreten, ein Dolmetscher übersetzt die Reden in Gebärdensprache. Die Demonstranten wollen nicht, dass ihre Stadt einen der modernsten Bahnhöfe Europas bekommt, neue S-Bahn-Linien und schnelle Züge nach Paris. Stattdessen wollen sie, dass ihr alter, denkmalgeschützter Bahnhof bleibt, wie er ist.

Hinter dem Bauzaun erstreckt sich der Nordflügel, der nun als Erstes abgerissen wird. Der Sackbahnhof soll unter die Erde gelegt und in einen Durchgangsbahnhof verwandelt werden, vom alten Gebäude bleibt nur ein Rest übrig, und die Strecke nach Ulm wird ausgebaut, so dass eine europäische Ost-West- Magistrale entsteht, auf der die Züge wie ein Sausewind dahinbrausen. Was soll daran schlecht sein? Hat es beim Berliner Hauptbahnhof nicht auch geklappt?

Alle Reportagen über das Projekt und über den sich anbahnenden Bürgeraufstand, erzählte ein Kollege, der da unten lebt, enthielten die Formulierung: „Ausgerechnet im beschaulichen Stuttgart.“ Oder so ähnlich. Das ärgere ihn. Denn eines ist Stuttgart ganz bestimmt nicht: beschaulich.

Nach dem Krieg wurden in fast allen westdeutschen Städten die gleichen Fehler gemacht, in Stuttgart aber besonders gründlich. Sie haben die Ruinen und das, was von der alten Stadt noch intakt war, weggeräumt wie eine unangenehme Erinnerung und gesichtslose Architektur hingestellt, die damals als modern galt. Sie haben vielspurige Autoschneisen durch die Stadt geführt. Der kleine Fluss plätschert in einer unterirdischen Betonröhre. Ein paar Schlösser und Kirchen durften stehen bleiben. Jetzt sieht die Stadt aus, als ob sie aus lauter Parkhäusern bestünde. Nicht die Bomben haben das getan, sondern der Glaube an den Fortschritt.

Umso mehr hängen die Stuttgarter an dem wenigen, was ihnen an Geschichte noch geblieben ist. Der alte Bahnhof von Paul Bonatz, fertiggestellt in den späten 20er Jahren, ist eine Art Wahrzeichen. Bei der Montagsdemonstration redet ein Kunstprofessor, er ruft: „Würden die Pariser sich vielleicht den Eiffelturm teilweise abreißen lassen? Niemals!“ Das hatten die Planer nicht auf der Rechnung: Bürger, die ihre geschundene Stadt immer noch lieben.

Der Schauspieler Walter Sittler, ein bekanntes Fernsehgesicht, ist einer der Anführer des Aufstands. Es gibt ein Foto, das ihn mit geballter Faust zeigt. Das ist überraschend. Sittler gehörte nie zu denen, die ihre Unterschrift unter jede Resolution setzen, die man ihnen hinhält. Er ist ein bürgerlicher, gemäßigter Mensch, wie viele der Aufständischen. Zwei Mal hat ihn die SPD als Wahlmann für die Bundespräsidentenwahl nominiert, zum letzten Mal demonstriert hatte er in den 80ern, Friedensbewegung. Sittler sagt, dass der Widerstand gegen den Abriss in seinen Augen eine Art Wiedergeburt des selbstbewussten Bürgersinns bedeutet.

Geboren wurde die Idee, die „Stuttgart 21“ heißt, in den späten 80er Jahren. Ursprünglich hieß es: Wir bringen den Bahnhof mit allen Gleisen unter die Erde und gewinnen damit Bauland in bester Innenstadtlage. Dieses Land verkaufen wir und finanzieren so den Umbau. Es kostet nichts oder fast nichts. In den folgenden Jahrzehnten wurde das Projekt, je genauer man es sich anschaute, in Milliardenschritten immer teurer, obwohl noch gar nichts passiert war. Vier Milliarden? Fünf Milliarden? Sieben? In einer neuen Studie des Umweltbundesamtes heißt es: Elf Milliarden sind realistisch.

Stadt, Land, Bahn, EU, alle stiegen ein und versprachen Geld, aber trotzdem hat das Projekt von den unbeteiligten Zuschauern nie jemand so richtig ernst genommen, es stand ja auch ständig auf der Kippe, und alle Welt redete vom Sparzwang. Ab 2001 wurde es eben doch ernst, es gab Beschlüsse. Unter die entscheidenden Verträge setzten neben anderen Oberbürgermeister Schuster und Ministerpräsident Oettinger ihre Namen, zwei Politiker, die als blass galten und im Schatten großer Vorgänger standen und denen man nachsagt, dass sie Stuttgart 21 zum Denkmal ihrer ansonsten eher unscheinbaren Amtszeiten machen möchten. Das ist vielleicht ungerecht.

Das Projekt marschierte durch die Institutionen, immer mit den Stimmen von CDU, SPD und FDP, es ging alles legal vor sich, es war nichts geheim, nur um die Legitimation durch den Bürgerwillen kümmerte sich niemand, wozu auch, die Mehrheiten standen. Als dann die Opposition gegen das Projekt erwachte, waren alle Einspruchsfristen verstrichen. 2007 reichten die Gegner 67 000 Unterschriften für einen Bürgerentscheid ein, nur 20 000 wären nötig gewesen. Die Politiker ließen das an sich abperlen. Frist verstrichen, basta. Das Verrückte ist, dass man damals bei einer Volksabstimmung in Stuttgart vielleicht sogar eine Mehrheit für S 21 hätte gewinnen können, in Meinungsumfragen stand es 50 zu 50. Die Weigerung, den Protest ernst zu nehmen, hat ihn, wie so oft, erst wachsen lassen. Als man im Rathaus merkte, dass ein Aufstand sich anbahnt, hat man schnell die Werbeagentur Scholz and Friends mit einer Imagekampagne beauftragt. Das half dann auch nichts mehr. Seit 2008 haben die Gegner in Umfragen die Mehrheit, 70 zu 30.

Die Grünen sind gegen das Projekt und surfen deshalb auf einer Woge des Erfolgs. Bei den Kommunalwahlen wurden sie in Stuttgart stärkste Partei, ein unerhörter Vorgang. Ein rauschebärtiger Kunstmaler, Gangolf Stocker, hat mit einer Minipartei ebenfalls drei Sitze gewonnen, man könnte sagen: In Stuttgart wird zurzeit jeder gewählt, solange er nur auf den neuen Bahnhof schimpft. Im März nächsten Jahres drohen Landtagswahlen.

Es kommen auch ständig neue Peinlichkeiten ans Licht, zum Beispiel ein Gutachten von 2008, das die Landesregierung bei Schweizer Verkehrsexperten in Auftrag gegeben hatte. Der Bahnhof soll unter der Erde nur noch acht Gleise besitzen statt, wie bisher, 17. Das Gutachten kommt zu dem auch für Nichtexperten wenig überraschenden Ergebnis, dass ein Bahnhof mit acht Gleisen, egal, wie viele Milliarden sein Bau verschluckt, in vielerlei Hinsicht weniger leistungsfähig ist als ein Bahnhof mit 17 Gleisen. Der neue Bahnhof werde schlechter funktionieren als der alte. Die Regierung hat darauf verzichtet, das an die große Glocke zu hängen.

Nun kommt das Umweltbundesamt zum gleichen Ergebnis – eine gigantische Milliardensumme werde, genau genommen, dafür ausgegeben, den ohnehin krisengeschüttelten Bahnverkehr in Deutschland noch einmal entscheidend zu verschlechtern. Der neue Bahnhof stünde, so das Umweltamt, bei „jeder geringfügigen Verspätung am Rande des Kollapses“.

Aber das ist noch weit hin, ein Jahrzehnt Bauchaos ist das Mindeste. Die „Stuttgarter Zeitung“ hat herausgefunden, dass die Bauvorbereitungen dem geplanten Verlauf schon jetzt mehr als 2000 Arbeitstage hinterherhinken. Dies hänge damit zusammen, dass die Bahn, wegen ihres bekannten Sparkurses, fast all ihre Bahningenieure in den vorzeitigen Ruhestand geschickt habe. Ein Bahnbauprojekt fast ohne Bahningenieure durchzuführen stelle sich überraschenderweise als extrem schwierig heraus.

Ein großes Problem der Befürworter besteht eben darin, dass ihr Projekt unter Beteiligung der Bahn entsteht. Dass eine Firma, der es nicht einmal gelingt, ihre Klimaanlagen zu warten, das größte europäische Infrastrukturprojekt dieser Jahre fristgerecht und ohne Kostensteigerungen über die Bühne bringen könnte, liegt für viele Menschen jenseits ihrer Vorstellungskraft. Kaputter als das derzeitige Image der Bahn kann ein Image kaum sein. Die neue Milliardentrasse nach Ulm soll 26 Minuten Zeitersparnis bringen, aber noch 1995 sind die Züge nach Ulm auf der alten Trasse 18 Minuten schneller gefahren als heute, nur weil damals die Gleise und die Züge in besserem Zustand waren. Die Grünen sagen, dass die Milliarden sehr viel sinnvoller in einer Verbesserung der infolge des Sparkurses verlotterten Regionalverbindungen und einfachster Dinge, zum Beispiel der Gleise, angelegt wären.

Das frei werdende Gelände, hundert Hektar, hat die Stadt inzwischen gekauft. Was daraus werden soll, weiß niemand. Es gibt schöne, unverbindliche Zahlen, 11 000 Wohnungen, 17 000 Arbeitsplätze, Ideen sind schon seltener. Ein kleiner Teil ist bereits bebaut. Dort steht das neue Staatsgefängnis, ein furchterregendes Bauwerk, das sich bei näherem Hinsehen dann doch als die Landesbank entpuppt. Wer dort durchläuft, landet auf dem neuen Pariser Platz. Der Pariser Platz ist eine Betonfläche mit vandalismusresistenten Edelstahlbänken und Pseudobrunnen, etwa das, was man sich im Jahre 1965 unter Urbanität vorgestellt hat, und ein Indiz dafür, dass man die unguten Architekturtraditionen der Nachkriegszeit fortzuführen gedenkt. Es ist eine Geschmacksfrage, aber viele werden sagen: Bahngleise sind schöner.

Es gibt ein paar wundervolle Orte in Stuttgart, die ahnen lassen, wie zauberhaft diese Stadt war, vor alldem. Die alte Markthalle etwa, die dort steht, wo seit 1450 immer eine Markthalle gestanden hat. Sie sollte abgerissen werden, um etwas Ähnliches zu errichten wie den Pariser Platz. 1971 beschloss der Gemeinderat, sie stehen zu lassen, mit nur einer Stimme Mehrheit. Jeder, der sich an die Markthalle angekettet hätte, um sie zu retten, wäre heute natürlich ein Held.

Wenn die CDU-Regierung einen diabolischen Geheimplan aushecken dürfte, um die ohnehin nicht erfolgsverwöhnte Südwest-SPD endgültig in die politische Bedeutungslosigkeit zu entlassen, dann würde er vielleicht lauten: Wir machen einen Sozi zum Sprecher von Stuttgart 21. Was soll man sagen – er meldete sich freiwillig. Wolfgang Drexler, Mitte sechzig, vertritt seit 1988 Esslingen im Landtag, ein ehrenwerter Mann, ein Urgestein, gerade macht er Urlaub in Masuren. Am Telefon wird er schnell laut und heftig, wenn er die Argumente der Gegner hört. Der letzte Landesparteitag hat dem Projekt noch mit großer Mehrheit zugestimmt – Fortschritt, Arbeitsplätze, sozialdemokratischer geht es doch kaum. Inzwischen ist in der Partei die Bereitschaft, für ein Projekt bei Wahlen die Zeche zu zahlen, das im Grunde doch wohl immer eher ein CDU-Projekt war, im Sinken begriffen. Für Drexler ist das eine politische Überlebensfrage. Drexler sagt einfach, dass es keine Alternative gebe. Alles demokratisch beschlossen, alles fertig, keine Ausstiegsklausel, 17 Jahre Planung können nicht umsonst gewesen sein, soll jetzt alles von vorne beginnen, klar, es wurden auch Fehler gemacht, trotzdem.

Eines steht fest, ein Ausstieg, jetzt noch, wäre juristisch kompliziert und würde Geld kosten. Für dieses Geld hätte man dann allerdings einen guten alten Bahnhof statt eines schlechten neuen, insofern ist der Gedanke vielleicht nicht ganz so irrsinnig, wie er klingt.

Rund um Stuttgart 21 kreuzen sich zwei Entwicklungslinien der deutschen Politik. Die Grünen setzen dazu an, die SPD zu überholen, nicht nur in Berlin, und nicht nur, weil sie einfach cleverer sind. Dazu die sinkende Bereitschaft der Bevölkerung, alle vier Jahre abzustimmen und es damit gut sein zu lassen. In Hamburg hat eine Mehrheit gegen eine Allparteienkoalition die Schulreformen gekippt. In Stuttgart steht ebenfalls eine Mehrheit gegen eine Fast-Allparteienkoalition, sie darf nur nicht abstimmen. Und das macht die Leute wütend.

In den kommenden Wochen könnte es in Stuttgart die Auferstehung von Wyhl, Gorleben und Startbahn West geben, all diese Mythen, nur in einer bürgerlicheren Variante, denn die Leute haben angefangen, ihre Stadt zu lieben, sie lassen sich nicht bevormunden, und alle Gewalt geht doch wohl vom Volke aus, oder etwa nicht.

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