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Berlins Staatssekretärin Sawsan Chebli wird immer wieder beleidigt und bedroht.

© Gregor Fischer/dpa

Beleidigungen gegen Sawsan Chebli und Karamba Diaby: Strafanzeigen sind richtig, aber gegen Hetzer nicht hilfreich

Verbale Entgleisungen können in tödliche Gewalt übergehen. Das ist eine der Lehren aus der Geschichte. Heute geht der Staat nicht weit genug. Ein Gastkommentar.

Ein Kommentar von Wolfgang Benz

Wolfgang Benz ist Historiker. Er lehrte von 1990 bis 2011 an der Technischen Universität Berlin und leitete das zugehörige Zentrum für Antisemitismusforschung.

Gewiss hat es keinen Einfluss auf die Entscheidung des Gerichts gehabt, dass ein notorischer Rassist zur Verhandlung seine Gefolgschaft aufbot und mit fahnenschwenkenden grölenden Barden im entsprechenden Outfit erschien, die unter Gebrüll Einlass in den Gerichtssaal begehrten. Aber es war ein Sinnbild für die Erosion der politischen Kultur. So geschehen dieser Tage im Amtsgericht Tiergarten. Zielscheibe ist die Staatssekretärin in der Senatskanzlei, Sawsan Chebli, die der unter anderem wegen eines Gewaltdelikts vorbestrafte Ex-Polizist mit rassistischen, frauenfeindlichen und ausgrenzenden Videos zu beleidigen pflegt.

Die Auseinandersetzung – jetzt der Berufungsprozess des in erster Instanz wegen Beleidigung Verurteilten – zeigt die Methode aktueller politischer Debatten: Der Beklagte warnt im Internet vor dem „Volkstod“, den Migranten vermeintlich den Deutschen zufügen. Zur Debatte vor Gericht stand jedoch nur die Schmähung, Chebli sei „Quotenmigrantin“ der SPD und eine „islamische Sprechpuppe“.

Der Übergang vom Ressentiment zur Gewalt ist fließend

Frau Chebli ist eine mutige Politikerin, die weder gröbliche noch gefinkelte Beleidigungen hinnimmt. Sie stellt Strafanzeige, das ist richtig und selbstverständlich. Aber nicht unbedingt hilfreich. Derlei Injurien zu behaupten, wie der Beklagte es gewohnheitsmäßig und hauptberuflich macht, sei nicht beleidigend, sondern Meinungsäußerung, befand das Gericht und verkündete den Freispruch des Hetzers.

Das scheint derzeit das Schicksal von Politikern. Am ärgsten trifft es den aus dem Senegal stammenden Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby aus Halle. Und die Grünen-Politikerin Renate Künast bekam besonders drastisch von der Justiz zertifiziert, dass auch obszöne Beleidigungen, die sogar im Straßenverkehr sanktioniert werden, gegenüber Politikern lediglich Ausfluss schützenswerter Meinungsfreiheit sind. Doch die Übergänge vom Ressentiment, das in der Schmähung zum Ausdruck kommt, zur Gewalt sind fließend. In Kassel, Halle und Hanau wurde das Ergebnis hetzender Feindschaft augenscheinlich.

Der Historiker, der eine Aufgabe darin sieht, dem regelmäßig so fatalistisch wie lustvoll beschworenen, scheinbar bevorstehenden Untergang der zweiten deutschen Demokratie Argumente entgegenzuhalten, beobachtet fassungslos die Erosion politischer Kultur. Trotzdem: keine falschen Parallelen.

Lehren aus historischen Katastrophen ziehen

Die Prognose, dass sich mit dem Getöse von Rechtsextremisten, die seit 1945 auftauchen und wieder verschwinden, das Scheitern des ersten deutschen Demokratieversuchs wiederholt, ist immer noch falsch. Die Mehrheit der Deutschen will keinen zweiten Hitler, sie glaubt an das System Demokratie, das gilt auch für die öffentliche Medien und die demokratischen Parteien.

Im Gegensatz zu den Eliten nach dem Ersten Weltkrieg steht die übergroße Mehrheit auf demokratischem Boden. Es geht also nicht darum, das Schicksal der Weimarer Republik zu prophezeien. Es wäre jedoch hilfreich, aus historischen Katastrophen Lehren zu ziehen.

Angesichts rechten Wutgebrülls gegen Demokratie, Sitte und Anstand besteht kein Grund zur Hysterie. Aber es gibt Irritationen über den Grad der Verrohung der Gesellschaft und über mangelnde Abwehr. Die Bundesregierung sucht – zu Recht – nach Möglichkeiten, Hassreden und Gewaltpropaganda in den sozialen Medien, wenn nicht zu unterbinden, so doch zu ahnden. Wie der Chebli-Prozess zeigt, braucht es die Anonymität zum Schutz der Hetzer und Brandstifter jedoch gar nicht. Unbeschränkte Meinungsfreiheit wird auch dem konzediert, der mit böswilliger Unterstellung, obszöner Beleidigung und Schmähkritik unter vollem Namen politisch zu agieren vorgibt.

Volksverhetzung definieren und ahnden

Warum ist die Justiz so verzagt und verteidigt mit allzu positivistischer Rechtsauslegung die Freiheit der Meinungsäußerung, selbst wenn die Grenzen zur verbalen Gewalt längst überschritten sind? Und warum sollen Politikerinnen und Politiker gröbere Beleidigungen hinnehmen müssen als andere Bürger? Warum ist die Scheu, das Delikt Volksverhetzung zu definieren, um es beherzt und wirkungsvoll zu ahnden, so groß?

In der bewegenden Trauerfeier für die Opfer des rassistischen Anschlags in Hanau haben höchstrangige Vertreter der Politik versichert, dass alle Bürger der Bundesrepublik gleich sind, egal ob ihre Vorfahren oder sie selbst eingewandert sind. Bundespräsident Steinmeier sagte, „es gibt Rassismus in unserem Land“ und „es gibt weit verbreitete Muslimfeindlichkeit“. Aber alle Bürger hätten das Recht darauf, dass die Mitbürger dem widersprächen und der Staat sie schütze.

Bei Schmähungen (nicht nur im Beleidigungsfall Chebli) geht der Staat aber nicht weit genug. Ihren Hass gegen „Fremde“ pöbeln Blogger ungeniert und unbehelligt im Internet und spitzfindige Juristen beschäftigen sich dann damit – mit schwer nachvollziehbaren Resultaten.

Der Blick zurück nach Weimar kann deshalb hilfreich sein, gerade wenn er nicht zur schnellfertigen Denunziation des derzeitigen Zustands unserer Demokratie erfolgt; sondern zeigt, wie rasch verbale Beleidigung in tödliche Gewalt übergeht. Genau vor 100 Jahren, vom 19. Januar bis 12. März 1920 kämpfte vor dem Landgericht in Moabit der damalige Reichsfinanzminister Matthias Erzberger um seine Ehre und seine politische Zukunft. Er hatte nach einer beispiellosen Rufmord-Kampagne seinen politischen und persönlichen Gegner Karl Helfferich verklagt.

Der Beleidigte verließ als Vernichteter den Gerichtssaal

Dieser war damals der einflussreichste Rechtspopulist in Deutschland, ein entschiedener Feind von Republik und Demokratie. In einer Artikelserie mit dem auch für heutige Leser höchst assoziativen Titel „Fort mit Erzberger!“ hatte er ihm moralisch vernichtende Eigenschaften (Gewohnheitslügner, fehlende „Wohlanständigkeit“, Raffgier) unterstellt und ihm die politischen Untaten Vaterlandsverrat, Mitwirkung am Waffenstillstand zur Beendigung des Ersten Weltkriegs und Zustimmung zum Versailler Vertrag persönlich zur Last gelegt.

Helfferich war wegen der monströsen Beleidigung zwar der Angeklagte, aber das Gericht drehte den Spieß um. Eine lächerliche Geldstrafe war formaljuristisch geboten, der Beleidigte verließ jedoch als Vernichteter den Gerichtssaal. Die Hassbotschaft wurde unmittelbar verstanden, und das macht die historische Reminiszenz aktuell. Noch während des Prozesses schoss ein Verhetzter nach der Lektüre der Beleidigungen auf Erzberger und verletzte ihn schwer. Dass der Politiker in Folgeprozessen rehabilitiert wurde, nützte ihm nichts. Im August 1921, kurz vor seiner Rückkehr in die Politik, wurde er zum zweiten Mal Opfer eines Mordanschlags von Rechtsterroristen.

Die Schüsse galten einem exponierten und deswegen als Volksfeind und Vaterlandsverräter denunzierten Demokraten.

Angestiftet hatte, auch im Zeichen der Meinungsfreiheit, ein rechtsradikaler Feind der Demokratie. Latente Gewalt freizusetzen ist, das lernen wir daraus, auch ohne soziale Medien möglich. Es ist nur leichter geworden.

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