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Die Lüderitzstraße in Berlin soll umbenannt werden.

© Kai-Uwe Heinrich

Streit um Straßen in Berlin-Wedding: Das Afrikanische Viertel braucht ein entehrendes Gedenken

In der Debatte über Straßen mit Namen von Kolonialisten gibt es zwischen Bewahren und Ändern noch einen dritten Weg: Erinnerung ohne Ehrung. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Wem gehört der öffentliche Raum? Fußgänger, Rad- und Autofahrer streiten um jeden Zentimeter. Soll ein Baum gefällt werden, bedarf es einer Genehmigung. Will eine Fastfoodfiliale in der Kreuzberger Wrangelstraße eröffnen, brodelt das Blut in den Kiezadern. Als der Palast der Republik abgerissen wurde, standen sich westliche Schlossnostalgie und östlicher Selbstbehauptungstrotz gegenüber. Der Plan von Google, einen Campus für Start-ups zu eröffnen, scheiterte. Im Kampf um den öffentlichen Raum geht es um Identität, Geschichte, Moral. Im Bild ihrer Stadt wollen deren Bewohner sich wiederfinden.

Das trifft auch auf Straßennamen zu. Kein ehrendes Gedenken für Kolonialisten, Rassisten, Antisemiten, Nazis! Das rufen die einen. Über Bilderstürmerei, Political Correctness, Säuberung, Geschichtsverdrängung beschweren sich die anderen. Exemplarisch spielt sich die Kontroverse derzeit im Afrikanischen Viertel in Wedding ab.

Der Bezirk Mitte hatte beschlossen, den Nachtigalplatz, die Petersallee und die Lüderitzstraße umzubenennen. Gustav Nachtigal, Carl Peters und Adolf Lüderitz waren Wegbereiter des deutschen Kolonialismus, der im Völkermord an den Herero und Nama gipfelte. Nun haben 200 Gewerbetreibende gegen die Umbenennung Widerspruch eingelegt. Sie schlagen statt dessen eine Umwidmung der Namen vor. Die Petersallee etwa könnte an Hans Peters erinnern, den NS-Widerstandskämpfer und Mitautor der Berliner Verfassung. Der Nachtigalplatz könnte nach dem Schriftsteller Johann Karl Christoph Nachtigal benannt werden. Und auch für Lüderitz fände sich bestimmt etwas Unverfängliches.

Geschichte nicht tilgen, sondern begreifbar machen

Was tun mit Zeugnissen einer dunklen Vergangenheit? Mit Städte- und Straßennamen, Denkmälern, Skulpturen, Begriffen? Mit dem Wort „Negerkönig“ bei Pippi Langstrumpf, mit dem U-Bahnhof Mohrenstraße in Mitte? Die Kriterien dafür sind unklar, die eine Anwendungsformel gibt es nicht.

Wenn Maßnahmen ergriffen wurden, dann meist wegen der emotionalen Wucht einer besonderen historischen Situation. Selbstverständlich verschwanden nach dem Zweiten Weltkrieg Adolf-Hitler-Plätze und Horst-Wessel-Straßen. Nach dem Mauerfall wurde aus Karl-Marx-Stadt wieder Chemnitz und das Lenin-Denkmal in Ost-Berlin abgerissen.

In Russland indes wird weiter Stalin verehrt und in China Mao Zedong. An der Sankt-Marien-Kirche in Wittenberg, wo einst Martin Luther predigte, ist bis heute in acht Meter Höhe die antisemitische „Judensau“-Skulptur zu sehen, ergänzt durch ein Mahnmal, das an die Shoah erinnert. Und nach langer Debatte beschloss die Universität Greifswald erst vor einem Jahr, den Namenszusatz Ernst Moritz Arndt zu streichen, den ihr die Nazis 1933 aufgedrückt hatten.

Allerdings gibt es zwischen bewahren und ändern einen dritten Weg. Er lässt sich, etwas widersprüchlich, als entehrendes Gedenken charakterisieren. Trägt eine Straße den Namen eines Menschen, der dessen unwürdig ist, sollte dies durch eine Zusatztafel beschrieben werden. Auf diese Weise wird Geschichte nicht getilgt, sondern begreifbar gemacht, kontextualisiert. Also: Wer war Carl Peters, warum wurde er geehrt? Kommentierende Einordnung statt Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn. Analog zu den Stolpersteinen sind das Stolperstraßen. Sie halten die Erinnerung an die dunklen Seiten der deutschen Geschichte wach.

Straßennamen sind mehr als Orientierungshilfen. Sie zeugen vom Zeitgeist und den darin herrschenden Ehrungsbedürfnissen. Kein Bewohner des Afrikanischen Viertels wird der Kolonialzeit nachtrauern, wenn er sich gegen die Straßenumbenennungen wehrt. Eine Umwidmung der Namen würde das Problem zwar lösen, aber eben auch nur durch eine Art Schlussstrich. Zur deutschen Geschichte gehören Kolonialismus und Rassismus, Antisemitismus und die vom DDR-Regime begangenen Verbrechen. Eine erinnerungspolitische Stunde null gibt es nicht – und sollte es nicht geben.

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