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Proteine zum Überleben. Kinder trinken einen Eiweißmix, den das UN-World-Food-Programme bei der Schulspeisung in einem Flüchtlingscamp in Äthiopien ausgibt. Dort leben mehr als 30 000 Menschen, die meisten aus Somalia.

© Zacharias Abubeker/AFP

Tagesspiegel-Kongress zur globalen Ernährung: Eine Welt ohne Hunger schaffen

Wie bekommen wir die Welt satt? Anlässlich des Tagesspiegel-Kongresses "World Food Convention", schreibt Welthungerhilfe-Chefin Bärbel Dieckmann, wie die Not bekämpft werden könnte.

Eine Welt ohne Hunger ist kein Traum, auch keine Vision. Es ist ein Menschenrecht. Und wir kommen global gesehen der Verwirklichung von diesem Recht näher. Die Entwicklungsländer konnten seit dem Jahr 2000 beträchtliche Erfolge bei der Reduzierung des Hungers erzielen. Der Welthunger-Index (WHI) 2017 zeigt, dass der Hungerwert in den Entwicklungsländern seither insgesamt um 27 Prozent gesunken ist. Für 14 Länder haben sich die Werte im Vergleich zum Jahr 2000 um mindestens 50 Prozent verbessert. Auch in anderen wichtigen Bereichen hat sich der Lebensalltag der Menschen weltweit verbessert: Die Armut und Kindersterblichkeit haben sich in den letzten Jahrzehnten halbiert, in vielen Ländern kann mittlerweile die Mehrheit der Mädchen und Jungen lesen und schreiben.

Es gibt noch einen weiteren außerordentlichen Erfolg zu vermelden: „Große“ oder gar „katastrophale“ Hungersnöte mit mehr als einer Million Todesopfern gibt es so nicht mehr. Während allein in fünf Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts jeweils 15 Millionen Menschen an Hunger starben, beläuft sich die Zahl seit Beginn des 21. Jahrhunderts auf knapp 600.000 Menschen (Welthunger-Index 2015). Dies ist zwar erschreckend hoch, historisch gesehen aber sehr niedrig. Auch die aktuellen humanitären Krisen – seien sie verursacht durch Kriege, wie in Syrien, oder durch Dürren oder Überschwemmungen, wie in Ostafrika: Sie führen nicht mehr zu massiven Hungersnöten. Die humanitäre Hilfe rettet Menschenleben und die Mechanismen zum schnellen Eingreifen in Notsituationen greifen.

Als Schwellenwert für den Hunger gelten 1800 Kilokalorien pro Person täglich bei mäßiger Aktivität

Trotzdem sind die aktuellen Zahlen alarmierend: 815 Millionen Menschen leiden weltweit an chronischem Hunger. Woran liegt es also, dass wir keine schnelleren Erfolge erzielen?

An der Menge der Nahrungsmittel liegt es nicht. Weltweit werden genug Nahrungsmittel produziert, um alle Menschen ernähren zu können. Waren 1961 lediglich 2193 kcal pro Tag und Mensch verfügbar, so waren es 2011 trotz starkem Bevölkerungswachstum 2868 kcal (FAO 2014). Als Schwellenwert für den Hunger gelten 1800 Kilokalorien pro Person täglich bei mäßiger Aktivität. Zum Vergleich: Jedem Deutschen stehen im Schnitt mehr als 3500 Kilokalorien täglich zur Verfügung. Global gesehen reicht es – für alle! Hunger ist in den meisten Fällen nicht ein Problem mangelnder Verfügbarkeit, sondern ein Problem mangelnden Zugangs. Das Einkommen und die Kaufkraft vieler Menschen sind zu niedrig. Ihnen fehlt schlichtweg einfach das Geld, um Reis, Mais oder Bohnen kaufen zu können.

Paradoxerweise leben die meisten der Armen ausgerechnet dort, wo Nahrung produziert wird: auf dem Land. Es sind kleinbäuerliche Produzenten oder in der Landwirtschaft abhängig Beschäftigte. Die Fläche, die sie zur Verfügung haben, reicht nicht für eine eigene Versorgung mit Nahrungsmitteln aus. Die Erlöse aus dem Verkauf sind meist zu gering, um das Notwendige dazuzukaufen. Viele Kleinbauern haben keinen Besitztitel am Land und somit wenig Anreize für Investitionen. Gleichzeitig mangelt es an Zugang zu Krediten, zu verbessertem Saatgut, und außerhalb der Landwirtschaft stehen keine Verdienstmöglichkeiten zur Verfügung. Unter diesen Umständen wird eine Dürre oder ein Krankheitsfall zur Katastrophe für die ganze Familie. Ist kein Geld da, wird die Tochter aus der Schule genommen und der Arztbesuch verschoben. Als nächstes wird die Zahl der Mahlzeiten reduziert, und männliche Familienmitglieder versuchen ihr Glück als Arbeitsmigranten in den Städten oder Nachbarländern.

Neben diesen strukturellen Ursachen sind Kriege und Konflikte noch immer die größten Hungertreiber. Wenn Bauern von ihren Feldern vertrieben werden, können sie nichts mehr anbauen. Infrastruktur wie Straßen oder Bewässerungssysteme werden zerstört und Märkte leiden. Damit steigen auch die Preise für Saatgut, Dünger und Treibstoff. Handel ist kaum noch möglich, und die Preise für Nahrungsmittel werden unerschwinglich. Allein der Krieg im Kongo führt dazu, dass 7,7 Millionen Menschen hungern, und für den Südsudan prognostizieren die Vereinten Nationen, dass in den kommenden Monaten knapp zwei Drittel der Bevölkerung nicht ausreichend Nahrung haben. Oft ist aber kein Krieg nötig, sondern reichen Misswirtschaft und Korruption, um ein Land zu einem Armenhaus zu machen, in dem Mangelernährung herrscht.

Im Südsudan werden bald zwei Drittel der Menschen nicht genug Nahrung haben

Simbabwe galt noch in den 1980er Jahren als Kornkammer Afrikas. Heute müssen fast alle Nahrungsmittel importiert werden, um die Bevölkerung zu ernähren. In vielen Entwicklungsländern fehlt es an einer politischen Verantwortung für das Gemeinwohl, werden Ethnien oder Ureinwohner ausgegrenzt und haben keine Teilhabe am politischen Dialog.

Aber auch der Klimawandel verschärft in vielen Gebieten die Ernährungslage. Afrika ist davon ganz besonders betroffen, denn 70 Prozent der Bevölkerung leben von der Landwirtschaft – einem Sektor, der wie kein anderer vom Wetter abhängig ist. Die Kleinbauern praktizieren zumeist Regenfeldanbau, womit sie einer zunehmenden Klimaveränderung direkt ausgesetzt sind. Oftmals verfügen sie aber nicht über die notwendigen Ressourcen, um Anpassungsmaßnahmen zu finanzieren. Jede extreme Dürre, jede Überschwemmung kann ihre Existenzgrundlage zerstören.

In unzähligen Konferenzen und Gipfeln wurden in den letzten Jahrzehnten Deklarationen unterzeichnet

Gleichzeitig steigt die internationale Nachfrage nach Agrargütern. Mit wachsendem Wohlstand auch in Schwellenländern können sich immer mehr Menschen ressourcenintensivere Produkte wie Fleisch und Käse leisten. Parallel dazu nimmt die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Erzeugnissen, die nicht als Nahrungsmittel verzehrt werden, zu. Zuckerrohr oder Palmöl werden zur Herstellung von Biokraftstoffen genutzt, und Mais wird zu Biogas verwertet. Was die Agrarindustrie nicht in den eigenen Grenzen produzieren kann, importiert sie aus anderen Ländern. Deutschland etwa gehört zu den zehn weltweit größten „Landimportierenden“ Staaten: Jährlich werden knapp 80 Millionen Hektar in anderen Ländern dafür genutzt, um den Bedarf an Agrarprodukten wie Viehfutter zu decken. Die Folgen wurden in der weltweiten Finanz- und Nahrungsmittelpreiskrise 2007/08 deutlich. Vor allem in Afrika setzte eine beispiellose Welle von großflächigen Landverkäufen ein, die besonders die Gebiete traf, wo die politischen Rahmenbedingungen schwach und die Ernährungsunsicherheit hoch war. Auch so spitzt sich Hunger zu.

Hunger ist überwindbar. Die Ursachen sind bekannt. Die Lösungswege auch. In unzähligen Konferenzen und Gipfeln wurden in den letzten Jahrzehnten Deklarationen unterzeichnet, in denen eine gerechtere Weltpolitik und gezielte Maßnahmen gegen den Hunger angemahnt und beschlossen wurden. So auch 2015 in der Agenda 2030 der Vereinten Nationen: Ihre 17 Ziele für Nachhaltige Entwicklung (SDGs) sind „darauf gerichtet, die Menschenrechte für alle zu verwirklichen“. Das besagt die Präambel. Dazu gehört auch, bis 2030 Hunger und Mangelernährung gänzlich zu überwinden – und damit das Menschenrecht auf angemessene Ernährung zu verwirklichen.

Eine Schlüsselrolle in der Reduzierung von Hunger ist die Stärkung der Rolle der Frauen. Sie produzieren in Entwicklungsländern einen Großteil der Nahrung und sorgen dafür, dass ihre Kinder etwas zu essen bekommen. Dennoch ist das Gesicht des Hungers weiblich, denn Frauen haben in vielen Ländern nicht die gleichen Rechte wie Männer. Dort, wo Frauen besseren Zugang zu Bildung und Ressourcen erhalten und mitentscheiden, sind sie selbst besser ernährt und können ihre Familien besser versorgen.

Verschwendung und Verlust von Lebensmitteln müssen verringert werden

Der wichtigste Baustein zur Überwindung des globalen Hungers ist die die Förderung der ländlichen Entwicklung. Nicht zuletzt deshalb fordert die Agenda 2030, gezielt verarmte kleinbäuerliche Betriebe besonders zu fördern. Ihr Einkommen muss gesteigert werden und sie müssen zur Ernährungssicherung beitragen. Im Mittelpunkt der ländlichen Entwicklung muss daher die Förderung von armen Kleinbauern hin zu modernen, ökologisch, wirtschaftlich und sozial nachhaltig wirtschaftenden bäuerlichen Landwirten stehen. Ziel hierbei ist, dass die Erträge nicht nur zur Selbstversorgung dienen, sondern auch Überschüsse ermöglichen, so dass Einkommen und Arbeitsplätze geschaffen und gesichert werden können. Weil schnelle Erfolge vor allem durch Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung erreicht werden, beispielsweise durch besseres Saatgut, Bewässerung und Mechanisierung, steht vielfach der Anbau im Vordergrund von Entwicklungsprojekten. Ertragssteigerung muss aber Hand in Hand mit Diversifizierungsstrategien und der Weiterverarbeitung von Erzeugnissen gehen. Dadurch werden nicht nur Risiken von Missernten und Nachernteverlusten gemindert, sondern gleichzeitig auch Arbeitsplätze auf dem Land geschaffen.

Auch staatliche Sozialprogramme sollten den Gesundheits- und Bildungssektor verbessern und dem Arbeitsmarkt wichtige Impulse geben, von denen besonders arme Bevölkerungsgruppen profitieren. In Ghana werden Familien kostenlos krankenversichert, wenn sie die Geburten ihrer Kinder registrieren lassen und zur Schule schicken. Das staatliche Schulspeisungsprogramm erreicht 1,7 Millionen Kinder. Die Zutaten werden lokal produziert, verkauft und zubereitet, wodurch Kleinbauern Marktzugang erhalten. War in Ghana in den 90er Jahren noch die Hälfte der Bevölkerung unterernährt, lag der Anteil 2014 bis 2016 bei unter fünf Prozent.

Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und zivilgesellschaftliche Organisationen müssen ihr Zusammenspiel verbessern

Die Regierungen der Entwicklungsländer stehen in der Pflicht, die Hunger- und Armutsbekämpfung in den Mittelpunkt ihrer Politik zu rücken. Die Industrienationen können ihren Beitrag leisten, indem sie darauf achten, dass importierte Agrargüter so produziert wurden, dass das Menschenrecht auf Nahrung gewahrt bleibt. Außerdem müssen Verschwendung und der Verlust von Lebensmitteln verringert werden. Wichtige Ressourcen wie Wasser und Ackerland werden verschwendet, wenn die Hälfte aller Nahrungsmittel im Norden weggeworfen oder im Produktionsprozess aussortiert werden.

Eine Welt ohne Hunger ist möglich. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und zivilgesellschaftliche Organisationen müssen ihr Zusammenspiel verbessern und ihre Strategien wie auch ihr Tun so gestalten, dass die Ziele der Agenda 2030 erreicht werden. 815 Millionen hungernde Menschen haben ein Recht darauf.

Die Autorin, Bärbel Dieckmann, ist Präsidentin der Welthungerhilfe, einer der größten privaten Hilfsorganisationen in Deutschland. Von 1994 bis 2009 war sie Oberbürgermeisterin von Bonn und von 2001 bis 2009 Mitglied des Bundesvorstands sowie des Parteipräsidiums der SPD.

Bärbel Dieckmann

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