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© picture-alliance/ZB

Stasi-Zentrale: Unruhe nach dem Sturm

Vor 20 Jahren besetzten Demonstranten die Berliner Stasi-Zentrale – manche befürchten, der Geheimdienst hatte bei der Aktion selbst die Finger im Spiel.

Von Matthias Schlegel

Berlin - Die Stimmung in der Lichtenberger Ruschestraße ist aufgeladen, als Christian Halbrock gegen 17 Uhr dort eintrifft. „Stasi raus, Stasi raus“-Rufe schallen durch das Halbdunkel an diesem trüben 15. Januar 1990. Der 26-Jährige ist dem Aufruf des Neuen Forums gefolgt, sich an der Zentrale des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit zu versammeln, um dem Treiben hinter den Mauern ein Ende zu bereiten und die Vernichtung der Akten des verhassten Geheimdienstes zu stoppen. Viele haben Mauersteine mitgebracht – denn wenn es nicht gelinge, die Stasi zum Aufgeben zu bewegen, müsse man sie eben einmauern, so der Aufruf.

Halbrock hat seine unangenehmen Erfahrungen mit dem Machtapparat der DDR. Als Mitbegründer des Friedens- und Umweltkreises an der Glaubenskirche 1983 hat er immer wieder mit dessen Häschern zu tun gehabt. Ausgerechnet in dieser Kirche am Lichtenberger Roedeliusplatz, die dem Stasi-Gelände gegenüberliegt, hat er mit Wolfgang Rüddenklau und Mitstreitern die Mächtigen herausgefordert. Jeden Tag musste Halbrock in der Ruschestraße an dem streng bewachten, düsteren Gebäudekomplex vorbeilaufen, wenn er sein Kind in den kirchlichen Kindergarten in der Pfarrstraße brachte.

Nun steht er hier inmitten von etwa 2000 anderen Leuten, die auf das Tor zulaufen, das sich kurz zuvor geöffnet hat. In einer dichten Menschentraube schiebt sich auch Halbrock durch das Tor, folgt im Innenhof dem Strom links hinüber zu einem erleuchteten Gebäude, dringt mit den anderen ein. Es ist Haus 18, der Versorgungstrakt mit Ladenpassage, Kaufhalle, Kantine und einem Kongresszentrum. „Ich bin mitgelaufen wie ein dummer Depp“, erinnert sich Halbrock, heute wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stasi-Unterlagenbehörde. Sie kommen an ein paar eingetretenen Türen, abgerissenen Plakaten, einem umgekippten Souvenirstand vorüber. Aber Halbrock sieht niemanden, der Verwüstungen anrichtet.

Es ist eine Mischung aus Wut und Triumph, die die Menschen bewegt. „Es war mir damals egal, was passierte“, sagt Halbrock. „Ein Denkmal zu stürzen, macht einfach Spaß. Ich hätte auch nichts dagegen gehabt, das ganze Gelände in die Luft zu jagen.“ Das Bewusstsein, dass da etwas zu schützen und aufzuarbeiten war, war bei den meisten der Eindringlinge eher schwach entwickelt. „Es war auch ein bisschen unheimlich: Diese große Zusammenballung von Menschen, die keine Kommunikation untereinander hatten“, erinnert sich Halbrock. Und er wundert sich, dass ihnen keine Stasi-Leute, kein Wachpersonal begegneten. Er will wenigstens ein paar Trophäen von diesem Tag mit nach Hause nehmen. So greift er sich am Souvenirstand zwei Minibücher: eine Biografie Walter Ulbrichts von 1981 und eine des Spanienkämpfers Hans Beimler. Vom roten Brett reißt er ein Blatt mit einer Stellungnahme des Amtes für Nationale Sicherheit – so hieß die Nachfolgeorganisation der Stasi – zur Rehabilitierung des Schriftstellers Walter Janka ab. Er wird das Papier später dem Domaschk-Archiv übergeben.

Für Martin Montag ist zu diesem Zeitpunkt, kurz nach 17 Uhr, als die Menschenmassen frohlockend über das Gelände ziehen, die Anspannung schon fast dem Gefühl der Resignation gewichen. Der Pfarrer ist als Mitglied des Bürgerkomitees Suhl schon seit drei bis vier Stunden auf dem Gelände. Denn in einer konzertierten Aktion haben die Bürgerkomitees der DDR-Bezirke, die schon Anfang Dezember 1989 in ihren Bezirksstädten und in vielen Kreisstädten die regionalen Dienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit besetzt hatten, auch in Berlin die Sache in die Hand genommen. „Wir haben uns auf Zusammenkünften am 4. Januar in Leipzig und am 12. Januar in Berlin darüber verständigt, dass wir nach unseren Erfahrungen auch die Berliner Zentrale besetzen wollten“, sagt Montag, heute Pfarrer der Pankratiusgemeinde in Beura im Eichsfeld. Sie haben sich für diesen 15. Januar in drei Gruppen aufgeteilt: Eine soll gleich morgens in der Stasi-Zentrale mit den zuständigen Geheimdienstchefs verhandeln, eine zweite soll Kontakt zu Polizei und Staatsanwaltschaft aufnehmen und sie bei der Sicherung des Geländes heranziehen, eine dritte soll am zentralen Runden Tisch, der an diesem Tag zusammentritt, die Öffentlichkeit informieren. Montag ist für die dritte Gruppe eingeteilt. „Ich dachte, weil mein Kollege Monsignore Ducke einer der drei Moderatoren am Runden Tisch war, würde es uns leichtfallen, dort aufzutreten“, erinnert er sich. Doch ihr Anliegen kommt nicht auf die Tagesordnung. Erst in einer Pause gelingt es den Leuten aus den Bezirken, das Neue Forum für ihr Vorhaben zu gewinnen. „Das Neue Forum stellte uns einen Platz am Runden Tisch zur Verfügung, dadurch hatten wir Rederecht“, sagt Montag.

Doch die Demonstranten am Nachmittag erreicht die Nachricht, dass die Besetzung der Stasi-Zentrale bereits in vollem Gange ist, nicht mehr. Die erste Gruppe der Bürgerkomitees ist zu diesem Zeitpunkt längst in der Höhle des Löwen. Sie hatten ohne Probleme Einlass bekommen, als sie sich mit ihren Ausweisen als Vertreter der Bürgerkomitees vorstellten. „Das waren vier, fünf Leute“, sagt Montag, und ihr Gesprächspartner ist Generalmajor Heinz Engelhardt. Der damals 45-jährige ehemalige Chef der Stasi-Bezirksverwaltung Frankfurt (Oder) ist seit Dezember 1989 Leiter des von der Modrow-Regierung neu geschaffenen und kurzlebigen Amtes für Verfassungsschutz der DDR. Als Martin Montag irgendwann zwischen 13 und 15 Uhr zu der Gruppe in der Stasi-Zentrale stößt, findet er alles relativ geordnet vor. „Es war vereinbart worden, dass die Stasi-Mitarbeiter nach Hause geschickt werden sollten. Das war eine Vorsorgemaßnahme auch wegen der bevorstehenden Demonstration.“ Die meisten Bereiche wie auch das Archiv seien bereits gesichert und versiegelt gewesen, die Polizei habe im Rahmen der Sicherheitspartnerschaft das Wachpersonal der Stasi abgelöst.

Doch dann, als gegen 17 Uhr immer mehr Demonstranten anrücken, droht denen drinnen die Situation zu entgleiten. „Uns ist ganz schön die Muffe gegangen“, sagt Montag, „denn wir haben die Sache erstmals unter umgekehrten Vorzeichen erlebt.“ Ein Polizeiwagen wird von innen ans Tor gefahren. Montag will Kontakt zu denen draußen aufnehmen. „Doch die waren überhaupt nicht willens, uns zuzuhören“, erinnert er sich. „Wir wurden von draußen als ,Stasi-Schweine’ beschimpft.“ Als die ersten Steine über die Mauer fliegen, wird der Polizeiwagen zurückgezogen. „Ich sah, wie ein Mann über das Tor kletterte und die Verriegelung von innen löste“, sagt der Pfarrer. Das Gelände wird vom Menschenstrom geflutet.

Was manchem im Nachhinein als von der Stasi gelenkte Aktion erscheint, ist für Montag ein durchaus glücklicher Umstand: Es sei „ein Zufall“ gewesen, dass der Versorgungstrakt nicht abgeschlossen gewesen sei und die Leute alle dorthin geströmt seien. Es seien keine großen Schäden angerichtet worden. Dadurch hätten die sensiblen Bereiche für die Aufarbeitung gesichert werden können.

Auch Michael Beleites ist irgendwann am frühen Nachmittag in der Stasi-Zentrale eingetroffen. Als Mitglied des Bürgerkomitees im thüringischen Gera war auch er für den Runden Tisch eingeteilt gewesen. Als er auf das Gelände an der Normannenstraße kommt, erscheint ihm die ganze Situation „dubios“. „Einige wussten etwas, andere nicht, einige hatten Sonderabsprachen geführt, andere nicht.“ Von dem, was sich anbahnte, sei viel im Hintergrund abgelaufen, sagt Beleites, der heute sächsischer Landesbeauftragter für die Stasiunterlagen ist. Die Stasi habe nach den Besetzungen der regionalen Dienststellen wochenlang Zeit gehabt, sich auf diesen Tag vorzubereiten. „Es ist naiv zu glauben, dass sie nicht Mitinitiator dieser Vorgänge war“, sagt Beleites. Er und sein Berliner Amtskollege Martin Gutzeit hatten jüngst bereits die Frage aufgeworfen, ob nicht schon die Besetzung der regionalen Stasi- Dienststellen ein abgekartetes Spiel war, bei dem die SED ganz bewusst die Stasi zum Sündenbock stempeln wollte, um von der eigenen Verantwortung abzulenken. „Waren schon die Vorgänge am 4. und 5. Dezember 1989 in den DDR-Bezirken verschwommen, sind die am 15. Januar 1990 in Berlin noch viel verschwommener“, sagt Beleites. Das ungute Gefühl hatte er schon an jenem Tag vor 20 Jahren auf dem Stasi-Gelände in der Normannenstraße. „Ich hatte das Empfinden, ich möchte eigentlich nicht dabei sein.“ Kurz vor 17 Uhr verlässt Beleites den Ort des Geschehens.

So unterschiedlich die Erinnerungen, so unterschiedlich sind auch die Bewertungen der Ereignisse aus heutiger Sicht. Christian Halbrock hält es nicht für unwahrscheinlich, dass Stasi-Leute selbst einen Großteil der vorgefundenen Verwüstungen angerichtet haben, um die Vorgänge zu diskreditieren: „Nicht umsonst schrieb das ,Neue Deutschland’ am nächsten Tag: ,Die friedliche Revolution hat ihre Unschuld verloren’.“ Aber der Stasi-Apparat sei ohnehin in Auflösung begriffen gewesen. Aus den Wachbüchern gehe hervor, dass immer weniger Offiziere zum Dienst erschienen seien. Und habe die Stasi im November noch Gasgranaten vom Typ „Moschus“ und Sperranlagen zur Abwehr eines Aufruhrs geordert, sei in späteren Dienstanweisungen befohlen worden, per Megaphon beruhigend auf die Leute einzuwirken, möglichst in fehlerfreiem Hochdeutsch. „Es war eine Pattsituation: Die DDR kollabierte, der Druck auf die Stasi war groß, sie wollte ihre Akten vernichten. So musste sie sich eine neue Legitimierung durch die Bürgerkomitees verschaffen. Sie waren eine Art menschliche Schutzschilde“, erklärt Halbrock die Bereitwilligkeit, mit der die Abgesandten in die Stasi-Räumlichkeiten eingelassen wurden.

Pfarrer Montag hält nichts von Verschwörungstheorien. „Ich würde ausschließen, dass wir fremdgesteuert waren, weil wir nach unserem vereinbarten Konzept vorgegangen sind und das Heft des Handelns immer in der Hand behalten haben“, sagt er. Für Michael Beleites hingegen ist der 15. Januar 1990 „eher eines der trüberen Ereignisse der friedlichen Revolution: Weil das Symbol der Friedlichkeit zerstört wurde und viele Hintergrundinteressen eine große Rolle gespielt haben“.

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