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Der Staat zerstört privates Vertrauen: Unterwerfung um jeden Preis
Das geplante texanische Abtreibungsgesetz ist ein frauenfeindlicher Skandal. Ein Gastbeitrag.
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Chiara Cordelli lehrt Politikwissenschaften und Aziz Huq Jura an der University of Chicago. Ihren Essay hat Harald Eckhoff aus dem Englischen übersetzt (Copyright: Project Syndicate 2021. www.project-syndicate.org).
Die verstorbene Oberste US-Richterin Ruth Bader Ginsburg schrieb 1984 einen Artikel, warum Roe gegen Wade, die Gerichtsentscheidung von 1973, die ein Verfassungsrecht auf Abtreibung feststellte, falsch begründet war. Der Fall, so erklärte sie, hätte nie als Angelegenheit der Privatsphäre oder Reproduktionsfreiheit allein betrachtet werden dürfen: Abtreibungen seien letztlich eine Frage der Geschlechtergleichheit.
37 Jahre später beweist nun der US-amerikanische Bundesstaat Texas mit seinem drakonischen Abtreibungsgesetz, dass Ginsburg Recht hatte. Wenn der Oberste Gerichtshof der USA das Gesetz bestätigt, wird dies die Beziehungen zwischen den Geschlechtern in eine Vergangenheit zurückwerfen, in der die meisten Amerikaner noch gar nicht geboren waren.
Das Gesetz namens Senate Bill 8 (SB8) verbietet nicht nur die Abtreibung nach der sechsten Schwangerschaftswoche. Es ermöglicht auch normalen Bürgern, jeden zu verklagen, der eine Abtreibung unterstützt oder Beihilfe leistet: Arbeitgeber, deren Lohnzahlung zur Abtreibungsfinanzierung verwendet wird; Fahrer, die eine Frau zu diesem Zweck transportieren; und sogar Elternteile oder Partner, die moralische Unterstützung anbieten.
Um solche Menschen haftbar zu machen, ist kein Beweis der Absicht erforderlich. Der Taxifahrer, der eine Frau die Hälfte des Weges zu einer Abtreibungsklinik fährt, riskiert eine Mindeststrafe von 10000 Dollar. Verwendet das Oberste Gericht die Anfechtungen dazu, Roe abzuschwächen, wird das Gesetz vermutlich zu einem Modell für andere Bundesstaaten: Florida und Ohio können es kaum erwarten, Gesetze zu verabschieden, die ähnliche „Gegenmaßnahmen“ zur Bekämpfung von Abtreibungen ermöglichen.
Das Gesetz wird Frauen abhängig machen
Wie zu erwarten war, hat das Gesetz bereits eine intensive Überwachung von Abtreibungsanbietern ausgelöst. Bleibt es bestehen, wird es aber wohl noch heimtückischere Folgen haben: Es wird dazu führen, dass Frauen gegenüber klageberechtigten Personen – also laut Gesetz gegenüber fast jedem – ein Leben der Angreifbarkeit und Angst führen müssen. Dies betrifft nicht nur die reproduktive Entscheidungsfreiheit.
SB8 wird Frauen auch auf drei verschiedene Arten abhängig machen und letztlich ihre Unterwerfung zur Folge haben. Das Gesetz bringt sie in eine grundlegend erniedrigte Stellung – und dies weitgehend unabhängig von den tatsächlichen Abtreibungsmöglichkeiten.
Zunächst einmal wird SB8 dazu führen, dass Frauen durch Arbeitgeber, Kaufleute, Taxifahrer, Apotheker und Bankangestellte überwacht werden. All diese Menschen werden plötzlich ein finanzielles Interesse daran haben, zu wissen, ob Frauen schwanger sind, bevor sie ihnen helfen. Nicht nur Fremde, sondern auch enge Freunde werden materiell sehr daran interessiert sein, über das Sexualleben eines Menschen Bescheid zu wissen.
Gefährdung der Privatsphäre
Daher gefährdet das Gesetz die hart erkämpfte Privatsphäre der Frauen, ob sie nun schwanger sind oder nicht. Darüber hinaus werden die finanziellen Sanktionen des Gesetzes wahrscheinlich zu größerer digitaler Überwachung durch Firmen führen, die ihre Haftbarkeit verhindern wollen - ebenso wie zu stärkerer Auswertung großer Datenmengen, um den reproduktiven Status von Frauen zu ermitteln.
Viele Unternehmen verfügen bereits heute über umfangreiche Überwachungssysteme am Arbeitsplatz, die Anzeichen einer Schwangerschaft erkennen können. Bei anderen gibt es Wellnessprogramme, die Daten über Bewegung, Body-Mass-Index und andere biologische Indikatoren sammeln, aus denen auf eine Schwangerschaft geschlossen werden kann. Risikoscheue Arbeitgeber können diese datenintensiven Arbeitsplatzüberwachungssysteme leicht so umprogrammieren, dass sie Schwangerschaften erkennen.
Daher gibt das texanische Gesetz privaten Akteuren sowohl eine Art von Kontrolle über Frauen, die sie über Männer nicht ausüben können. Dies betrifft auch Transgender-Menschen, die ihr Geschlecht aus Sicherheitsgründen am Arbeitsplatz verheimlichen wollen.
Der zweite Effekt ist von noch intimerer Art: Da SB8 die Schwelle zum eigenen Heim überschreitet, wirkt es sich direkt auf das Vertrauen innerhalb der Familie oder der Partnerschaft aus: Eine Frau, die ihren Eltern oder ihrem Partner erzählt, dass sie eine Abtreibung plant, läuft Gefahr, diese Personen damit finanziell haftbar zu machen. Auch Freundschaften werden belastet: Was ist, wenn eine Frau eine Freundin bittet, ihr Geld zu leihen oder sie ins benachbarte Oklahoma zu fahren? Muss die Freundin nun fragen, ob es dabei um eine Abtreibung geht?
Keine Ausnahme bei Vergewaltigungen
Am beunruhigendsten ist schließlich, dass SB8 keine Ausnahme für Vergewaltigungen vorsieht. Laut dem Gesetz kann eine Mutter, die ihre Tochter in die Klinik fährt, verklagt werden, aber ein Vergewaltiger nicht. Greg Abbott, der Gouverneur von Texas, hat gesagt, eine Ausnahme für Vergewaltigung sei unnötig, da die Täter sowieso immer bestraft würden. Dies wäre absurd, wenn es nicht so fürchterlich falsch wäre. In den gesamten USA meldet eine Mehrheit der Opfer eines sexuellen Angriffs das Verbrechen noch nicht einmal an die Strafverfolgungsbehörden. In Texas ist das nicht anders.
SB8 wird das Problem der mangelnden Vollstreckung verschlimmern. Da das Gesetz Frauen erschwert, anderen zu vertrauen, steigt der Druck, über erlittene sexuelle Gewalt zu schweigen. Auf perverse Weise gibt das Gesetz männlichen Angreifern dadurch einen Anreiz, eine Schwangerschaft zu verursachen, um ihr Opfer so am Reden zu hindern.
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Was Jacqueline Rose vom Birkbeck Institute for the Humanities der Universität von London über sexuelle Belästigung von Frauen gesagt hat, trifft auch auf SB8 zu: Es geht „nicht nur darum, die Körper der Frauen zu kontrollieren, sondern auch darum, in ihren Geist einzudringen“.
Wir glauben aber, dass der Zweck des Gesetzes noch weiter geht: Es zielt darauf ab, Frauen auf eine untergeordnete gesellschaftliche Rolle zu beschränken. Ginsburg hat es richtig erkannt: Das Recht zur reproduktiven Freiheit ist für die Gleichberechtigung der Frauen von entscheidender Bedeutung.
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