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SPD-Kanzlerkandidat und Bundesfinanzminister Olaf Scholz kurz nach dem Sondieren.

© Michele Tantussi / Reuters

Vertraulichkeit bei der Regierungsbildung: Durchstechereien sind ein Dienst an der Demokratie

Sondiert wird im Geheimen, obwohl diese Phase richtungsweisend ist. Etwas Transparenz darf sein, zumal wenn ein Finanzminister mitmischt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Vertrauen gilt als Schlüssel für die Regierungsbildung, weshalb die Partner für ihre Sondierungsgespräche Vertraulichkeit verabredet haben. Nichts soll nach außen dringen. Es sei denn, man verlautbart es gemeinsam. Wie ein Vierer-Selfie mit Textzeile oder die rituelle Ansage, es habe vertrauensvolle Gespräche gegeben. Finden Durchstechereien statt, werden sie von den Beteiligten beklagt. „Das nervt“, heißt es.

Falsch. Es ist erfreulich. Die Wahlen sind vorbei, der Souverän hat gesprochen. Sein Votum war im Wesentlichen, dass alles in etwa so wie bisher weitergehen möge, vielleicht mit einem Wechsel der Parteifarbe im Kanzleramt. Muss aber nicht. Ausweislich der Ergebnisse ist die Stimmendifferenz zum Nächststärkeren gering. Die Rede vom „Regierungsauftrag“ wirkt wie ein Überbleibsel aus einer Zeit, als Volksparteien die Herrschaft noch unter sich aufteilen konnten.

Das scheint vorbei. Die Koalitionsgespräche und die ihnen vorgelagerte Sondierung ist mit einer sich nivellierenden Parteienlandschaft zur eigentlichen politischen Findungsphase geworden. Die Entscheidung, wer Kanzlerin oder Kanzler wird, wird erst jetzt getroffen. Die Richtung für die nächste Legislaturperiode wird erst jetzt bestimmt. Erst jetzt offenbaren die Wettbewerber, wie wichtig sie jeweils ihre Ziele nehmen und welche sie bereit wären für Kompromisse zu opfern.

Mit anderen Worten: Alles, was auf Bundesebene für das Gemeinwesen in den nächsten vier Jahren bedeutsam wird, passiert erst jetzt. Jetzt ist der Moment, in dem die Konkurrenten vom Wahlkampftheater mit Triellen und Plakatbotschaften auf das Mögliche und Machbare umschalten.

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 Robert Habeck (l.) und Annalena Baerbock, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, mit FDP-Parteichef Christian Lindner.
Robert Habeck (l.) und Annalena Baerbock, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, mit FDP-Parteichef Christian Lindner.

© Michael Kappeler/dpa

Es offenbart ein befremdliches Demokratieverständnis, wenn es heißt, es „nerve“, wenn davon etwas nach außen dringe. Auch in einem repräsentativen System bleiben Bürgerinnen und Bürger nach den Wahlen Beteiligte des politischen Prozesses, sind eingebunden in Meinungs- und Willensbildung. Dass sie Vertrauen in die künftigen Regierungspartner aufbauen, ist so wichtig wie das Vertrauen der Partner untereinander.

Hinzu kommt, dass hier nicht nur Parteien die politische Zukunft aushandeln. In den Delegationen finden sich Amtsträger. An exponierter Stelle: Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD).

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Er kann nicht anders, er geht stets auch als Vertreter der Exekutive in die Gespräche. Ausgestattet mit amtlichem Wissen, das ihm für anstehende Aufgaben einen Vorsprung sichert. Denn er weiß besser als alle anderen, was die Kassenlage zulässt. Und er kann, noch geschäftsführend im Amt, für Künftiges Weichen stellen. Ein Pfund in den Verhandlungen.

Was die Exekutive macht, steht üblicherweise unter öffentlicher Beobachtung und parlamentarischer Kontrolle. Wenn Regierende im Schutz der Vertraulichkeit verabreden, wer die nächste Regierung bildet, wird diese gute Regel offenbar ausgesetzt. Durchstechereien sind dann ein Dienst an der Demokratie.

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