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Die EU-Kommission sähe gern den Verbrauch von Plastiktüten eingeschränkt.

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EU-Kommission: Was darf Brüssel verbieten?

Im kommenden Jahr wird ein neues Europaparlament gewählt. Die Wahlkämpfer werden sich gegen einen negativen Ruf der EU wehren müssen: Die EU steht für Verbote – dabei stecken oft die Mitgliedstaaten dahinter.

In seinem Buch „Der gefesselte Riese“ entwirft EU-Parlamentspräsident Martin Schulz das Bild einer Europäischen Union, die am Boden ist. Eigentlich, so lautet die These des SPD-Politikers, könnte die EU Großes im Sinne ihrer Bürger bewegen. Aber der „Riese“ Europa kommt nicht auf die Beine, was Schulz nachdrücklich bedauert. Seine Analyse: Dass das Projekt „Europa“ nicht fliegt, liegt nicht zuletzt daran, dass viele Bürger die EU als eine anonyme Macht wahrnehmen. Eine Macht, die sich zunehmend in ihr Alltagsleben einmischt.

Über ein halbes Jahr ist es nun her, dass Schulz seine kritischen Thesen veröffentlicht hat. Von seinem Urteil über den Brüsseler Betrieb, an dem er selbst an prominenter Stelle mitwirkt, hat er auch heute nichts zurückzunehmen. Im Gegenteil. Denn in der Zwischenzeit hat die EU-Kommission genügend Aufregung verursacht, was wiederum Wasser auf die Mühlen von EU-Skeptikern leitet.

Im Mai zog der Brüsseler Agrarkommissar Dacian Ciolos beispielsweise den Entwurf einer Verordnung zurück, der zufolge auf Europas Restauranttischen nur noch verschlossene Einwegflaschen voller Olivenöl hätten stehen dürfen. Die traditionellen Olivenöl-Kännchen bleiben nach dem Brüsseler Rückzug weiter erlaubt, was in der Gastronomie von Betreibern und Kunden erleichtert zur Kenntnis genommen wurde. Die Olivenölkännchen-Verordnung sei von der Kommission „zu Recht zurückgezogen“ worden, sagte Schulz dem Tagesspiegel. „Es ist nicht nötig, dass solche Regelungen aus Brüssel kommen“, findet er. Die Auslegung der Regeln des EU-Binnenmarktes sei „oft zu weitgehend“. Sein Vorschlag: Die EU solle sich auf die Aufgaben konzentrieren, die regional oder national nicht mehr sinnvoll gelöst werden können.

Die Anregungen des Parlamentspräsidenten, der im kommenden Herbst die Nachfolge des EU-Kommissionschefs José Manuel Barroso antreten will, fallen in eine kritische Phase. Im kommenden Mai wird ein neues Europaparlament gewählt, und da werden die EU-Bürger doch ein bisschen genauer hinschauen, was in Brüssel, dem Sitz der EU-Kommission, und in Straßburg, dem Tagungsort für die Plenarsitzungen des Europaparlaments, eigentlich passiert. Eine der größten Herausforderungen für die Wahlkämpfer wird darin bestehen, das Bild vom Brüsseler Regulierungsmoloch geradezurücken. Schulz sieht die EU-Abgeordneten grundsätzlich in einer Wächterrolle: Immer dann, wenn die EU als Exekutive auftrete, müsse sie auch vom Europaparlament kontrolliert werden. „So ist das in Demokratien.“

Für die häufig von den Bürgern als unwillkommen empfundene Einmischung der EU-Kommission in ihr Alltagsleben gibt es zahlreiche Beispiele: das Verbot klassischer Glühbirnen zugunsten von Energiesparlampen, das bevorstehende Verbot wattstarker Staubsauger oder die Überlegung in Brüssel, Standards für verbrauchsarme Duschköpfe festzulegen oder zumindest einen geringeren Wasserverbrauch per Öko-Label zu fördern. All dies geht auf die Ökodesign-Richtlinie zurück, mit deren Hilfe der Energieverbrauch in der EU eingedämmt werden soll. Wer dabei gleich auf Brüssel schimpft, übersieht allerdings, dass die EU-Kommission oft nicht aus eigenem Antrieb handelt. Oft kommen die entscheidenden Impulse aus den Nationalstaaten. Ohne den vehementen Einsatz des damaligen Umweltministers Sigmar Gabriel (SPD) und von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Jahr 2007 wäre jedenfalls das Ende herkömmlicher Glühbirnen auf EU-Ebene kaum eingeläutet worden.

Ähnlich verlief auch die Entscheidung über eine Tabakrichtlinie der Kommission, wonach künftig Schockbilder – etwa von Raucherbeinen – auf Zigarettenpackungen Pflicht werden. Bevor das Europaparlament Anfang Oktober die Richtlinie billigte, hatte auch die Bundesregierung ihre Zustimmung zu den großen Warnhinweisen signalisiert.

Wieder anders ist der Fall bei den Plastiktüten gelagert, die dem EU-Umweltkommissar Janez Potocnik nicht gefallen. Potocnik will kein EU-weites Verbot erlassen, sondern lediglich den Mitgliedstaaten ein Verbot der Plastiktüten erlauben. Eine solche Maßnahme soll vor allem den Meerestieren helfen, denn viele der umstrittenen Tüten landen am Ende in den Ozeanen.

In vielen Bereichen gibt es Doppel-Zuständigkeiten in der Kommission

Aber ganz egal, welche der zahllosen Richtlinien, Verordnungen und Vorschläge der EU man unter die Lupe nimmt, so ist doch ein Brüsseler Manko besonders augenfällig: Es gibt Reibungsverluste in der EU-Kommission, die in der Vielzahl der Kommissare begründet liegen. Jedes Land darf einen Kommissar stellen, womit nach gegenwärtigem Stand 28 Frauen und Männer an der Spitze der Brüsseler Behörde stehen. Zahlreiche Ressorts wurden in Brüssel künstlich aufgeteilt, nur damit jedes EU-Land zufriedengestellt wird. Derlei Doppelzuständigkeiten gibt es im Bereich Justiz und Inneres, bei der Energiepolitik sowie der Außen- und Nachbarschaftspolitik. Am Beispiel der Ökodesign-Richtlinie werden die verwirrenden Zuständigkeiten besonders deutlich: Geht es um Stromfresser wie Staubsauger, zeichnet der deutsche Energiekommissar Günther Oettinger verantwortlich. Wenn aber Anlagen wie Transformatoren betroffen sind, ist der italienische Industriekommissar Antonio Tajani zuständig. Und schließlich hat auch der Slowene Potocnik als Umweltkommissar beim Ökodesign ein Wörtchen mitzureden.

Eigentlich würde der EU-Vertrag von Lissabon den Staatenlenkern in Europa die Möglichkeit eröffnen, die Kommission zu verkleinern und an die tatsächlich anfallenden Aufgaben anzupassen. Ein solcher Schritt könnte für die EU-Kommission auch eine Rückbesinnung auf ihre wesentlichen Zuständigkeiten bedeuten. Allerdings haben die Staats- und Regierungschefs diese Chance bei einem Gipfeltreffen im vergangenen Juni vertan. Stattdessen bekräftigten sie die Regelung, dass auch künftig jedes Land seinen eigenen EU-Kommissar nach Brüssel schicken darf. Der ehemalige Zagreber Vize-Premier Neven Mimica vertritt jetzt das Neu-Mitglied Kroatien in Brüssel als Verbraucherkommissar. Der Politikwissenschaftler Nicolai von Ondarza von der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) hält es für einen „bedauerlichen Rückschritt“, dass sich die Europäer im Sommer nicht zu einer Verkleinerung der Kommission durchringen konnten.

Auch EU-Parlamentschef Schulz findet eine schlankere Kommission, wie sie im Lissabonner Vertrag vorgesehen ist, „sinnvoll“. Es dürfe nicht darum gehen, wie viele Kommissare die EU hat, „sondern darum, dass die Kommission ihre Aufgaben ordentlich erfüllt“, argumentiert er. „Da ist weniger manchmal mehr.“

Dass die vielköpfige EU-Kommission in ihrem Wunsch nach Regulierung gelegentlich übers Ziel hinausschießt, ist in der Behörde dabei durchaus als Problem erkannt. Es sei nicht nötig, dass die EU-Kommission künftig die Höhe der Absätze von Friseurinnen festlege, erklärte Kommissionschef José Manuel Barroso im Oktober. Viele Menschen seien der Ansicht, dass sich die Kommission in Belange einmische, in denen das eigentlich gar nicht nötig wäre. „In vielen Bereichen brauchen wir europäische Regulierung. Andere Themen können besser auf nationaler und regionaler Ebene behandelt werden“, verkündete der Kommissionschef.

Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers von Ondarza lässt sich das Problem, dass die EU-Kommission abseits ihrer eigentlichen Aufgaben zu schnell mit Richtlinien-Entwürfen bei der Hand ist, nur durch einen langfristigen „Kulturwandel“ beheben. Zeichen eines Umdenkens lassen sich nach seinen Worten bereits seit einem Jahrzehnt erkennen. So nimmt die EU-Kommission bei neuen europäischen Gesetzesvorhaben inzwischen automatisch eine sogenannte Subsidiaritätsprüfung vor. Sie besagt, dass ein EU-Gesetz nur dann erlassen werden kann, wenn die nationale oder regionale Ebene damit überfordert wäre.

Außerdem gibt der Lissabon-Vertrag den Parlamenten der Mitgliedstaaten die Möglichkeit, Brüssel die „Gelbe Karte“ zu zeigen. Nach dieser Regelung muss der Entwurf eines EU-Gesetzes überprüft werden, wenn die Parlamente in einem Drittel der Mitgliedstaaten Bedenken äußern. So musste die Kommission bei einer Regelung zum Streikrecht in den Mitgliedstaaten im vergangenen Jahr bereits einen Rückzieher machen.

Doch derartige Kehrtwendungen ändern wenig an der europaskeptischen Stimmung, mit der die Kommission derzeit zu kämpfen hat – in Großbritannien sowieso, aber auch in Ländern wie den Niederlanden. Dort hat Frans Timmermans, immerhin der Außenminister des Landes, über die „Financial Times“ seine Reformvorschläge zu Protokoll gegeben. Nach seiner Vorstellung sollten die nationalen Parlamente im europäischen Räderwerk eine echte Vetomacht erhalten. Das würde bedeuten, dass sie Brüssel statt der Gelben demnächst auch die Rote Karte zeigen könnten. Ein solches Verfahren muss nicht schlecht sein – wenn es die EU dazu zwingt, sich auf ihre Kernaufgaben zu besinnen.

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