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Elke Heidenreich sorgt mit ihren Kommentaren zur neuen Bundessprecherin der Grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich, für Diskussionen.

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Heinrich, El-Hassan, Heidenreich: Wer nicht verzeihen kann, wird zynisch

Menschen machen Fehler, das macht sie menschlich. Das aber ignorieren jene, die in sozialen Netzwerken mit Vorliebe auf der Jagd sind. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Er schlägt mit der Faust auf einen am Boden liegenden Polizisten ein, wirft Steine auf die Beamten, sagt später von sich selbst, er sei militant gewesen. „Wir haben kräftig hingelangt.“ Das war 1973, 28 Jahre später wird die Affäre bekannt. Da ist Joschka Fischer bereits Außenminister von Deutschland. Er bleibt im Amt, trotz seiner radikalen Zeit in der Hausbesetzer-Szene. Die Gesellschaft verzeiht ihm. Waren nicht alle mal jung und haben Fehler gemacht?

Ein Sprung ins Jetzt. Die Grünen-Politikerin Sarah-Lee Heinrich hat mit 14 Jahren sexistische und rassistische Tweets veröffentlicht. Das bereut sie. Für den Begriff der „ekligen weißen Mehrheitsgesellschaft“ hat sie sich entschuldigt.

Die Medizinerin und Journalistin Nemi El-Hassan nahm 2014 – da war sie 21 Jahre alt – an einer israelfeindlichen Demonstration teil, auf der auch antisemitische Slogans skandiert wurden. Das sei falsch gewesen, sagt sie und verurteilt jede Art von Antisemitismus. „Der Mensch, der ich heute bin, hat nichts mehr mit dem Menschen von damals zu tun.“

Die Literaturkritikerin Elke Heidenreich ist mit 78 Jahren zwar nicht mehr ganz jung. Doch als sie jüngst in einer Talkshow kräftig gegen Heinrich austeilte – „ein Mädchen, das nicht genug nachdenkt“ – und sich über die Herkunft von „netten dunkelhäutigen Taxifahrern“ ausließ, entlud sich über sie ein ähnlich starkes Empörungsgewitter wie über Heinrich und El-Hassan.

Es wird entlarvt, gepöbelt, skandalisiert

Was ist los? Deutschland steckt mitten in einer Klima-, Renten-, Pflege-, Digitalisierungs-, Energiepreis- und Konjunkturkrise. Aber mit Vorliebe, so scheint es, befassen sich viele Menschen mit der Jagd auf andere. Zumindest in den sozialen Netzwerken. Da wird entlarvt, gepöbelt, skandalisiert. Seltsam nur: Oft sind es dieselben, die dort Hass und Hetze verurteilen, dann aber ihrerseits hassen und hetzen. Und oft sind es dieselben, die über eine angeblich fehlende Meinungsfreiheit in Deutschland klagen, dann aber über jeden Talkshow-Gast wutschnauben, dessen Meinung ihnen nicht passt.

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Zwei Entwicklungen haben das befördert. Da ist, erstens, eine weitgehend demokratisierte Öffentlichkeit, an deren Debatten jeder teilnehmen kann, der ein Handy besitzt. Das Zugangsprivileg, über das einst Politiker und Journalisten verfügten, hat sich aufgelöst. Plagiatsjäger und Biographiedurchleuchter, die das Internet nach Peinlichkeiten und Missgriffen durchforsten, haben ein neues Geschäftsmodell entwickelt.

Jeder Nutzer steht potenziell nackt da

Da ist, zweitens, ein Medium, das nie vergisst, während das verfügbare Datenvolumen rasant wächst. Ob Chatverläufe auf Twitter oder Instagram-Videos: Wer sucht, findet. Über immer mehr Menschen wird immer mehr bekannt. Jeder Nutzer steht potenziell nackt da, ist angreifbar und verwundbar. Die zwei Seiten der Transparenz heißen Aufklärung (gut) und Pranger (schlecht).

Der US-Philosoph David Weinberger fordert: „Ein Zeitalter der Transparenz muss ein Zeitalter des Vergebens sein.“ Das gilt für die Jugendsünde wie für den Altersstarrsinn, für Heinrich wie für Heidenreich. Wenn nicht gelernt wird, wie Verzeihen ohne Vergessen funktioniert, bleiben Zynismus und Hypererregung.

Menschen machen Fehler, das macht sie menschlich. Diversität heißt auch, Diverses aushalten zu wollen. Eine Gesellschaft, die Joschka Fischer im Amt belässt, zeigt Verständnis und Reife. Beide Eigenschaften sind selten geworden.

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