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Kohl

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Helmut Kohl: "Wer sich nicht selbst imponiert, kann niemand anderem imponieren"

16 Jahre Kanzler, 25 Jahre Parteivorsitzender und nun 80 Lebensjahre. Über Helmut Kohl, den Kanzler der Einheit, den großen Europäer aus der Pfalz, den Spendensünder, ist viel gesagt, gerichtet und gespottet worden. In unzähligen Büchern kommt er vor, manche hat er selbst geschrieben. Heute lobt ihn der Bundespräsident hoch. Und dennoch: Es bleiben Fragen.

WAR KOHL SO PROVINZIELL,  WIE ER GEMACHT WURDE?

Helmut Josef Michael Kohl, wie er mit ganzem Namen heißt, war nie wirklich provinziell. Jedenfalls wenn man das Wort negativ verstehen will. Er wirkte nur immer so, sagen wir – einfach. Schlicht. Sehr, sehr bodenständig. Seine Gegner meinten: tumb. Das war besonders wegen der Sprachfärbung. Es ist dieser „pällsische“, pfälzische Singsang, verbunden damit, dass ihn im Laufe der Zeit arg das Nuscheln anfiel. Wahrscheinlich ist das aber einmal der Tatsache des höheren Alters geschuldet, zum anderen dem Umstand, dass ihm über so viele Jahre so viele Menschen genau, und zwar ganz genau, zuhören mussten. Denn es war ja doch sehr lange sehr wichtig, was er sagte. Und nicht so sehr, wie.

Seine Heimat, die Pfalz, lag ihm immer am Herzen, es war ihm vor allem wichtig, „geistig auf dem Boden der Heimat zu stehen“. Heute, im Zeitalter der Globalisierung, ist das kaum noch zu verstehen, weil der raue Wind der Wirklichkeit die Menschen mehr denn je mal hierhin und mal dorthin weht. Aber für Kohl war es so: In Ludwigshafen aufgewachsen (wo er übrigens 1946 die Junge Union gründete), in der Pfalz die ersten Schritte getan, als Junge und als junger Politiker, „dort wird immer mein Zuhause sein, dort werde ich begraben liegen“. So hat er es gesagt. Und von „Liebe zur Heimat“ gesprochen. Wer sagt das heute noch?

Und wie würde, beispielsweise, heute Theodor Heuss angesehen? Der sprach so stark schwäbisch, dass Kohl, als er ihn 1948 bei der Wahl zum FDP-Vorsitzenden zum ersten Mal hörte, zwar sehr beeindruckt war von diesem Typus Mensch und Professor, aber keines seiner Worte verstand, wie er erzählt hat. Oder Konrad Adenauer, der dem Rheinischen so verbunden war und sprach, wie es sich Jürgen Rüttgers, NRW-Ministerpräsident, heute nur noch in Anklängen erlaubt? Oder Goethe, der große Goethe, der wegen seines Frankfurter Dialekts auch nicht von jedermann verstanden wurde; manche Reime erklären sich aus diesem Dialekt.

Kohl, der das alles wusste, sagte immer: Die Pfalz ist meine Heimat, Deutschland mein Vaterland, und Europa ist unsere Zukunft. Das meinte er so. Drum noch einmal zum Wort: Provinziell ist nicht nur negativ besetzt. Kohls erste Frau, Hannelore, hat das im Blick auf ihn immer betont. Und sie – 17-mal umgezogen, geboren in Schöneberg in Berlin, mit einem halben Jahr nach Leipzig gekommen, dann die Flucht, die neue Heimat in Mutterstadt – war das Gegenteil von provinziell im engen Sinne. Hannelore Kohl konnte mit großen Staatsleut’ in deren Muttersprache parlieren.

Kohl selbst antwortete bei solchen Gelegenheiten, bei denen es um Enge und Provinzialität ging, gerne mit Carl Zuckmayer. Er kannte seinen Zuckmayer, der aus dem nahen Rheinhessen stammte, nicht nur den „Hauptmann von Köpenick“, ein Buch, das ihn ein Leben lang begleitet hat. Wie in „Des Teufels General“ der General Harras über die Menschen vom Rhein redet, von der „großen Völkermühle“, von der „Kelter Europas“ – kein anderer Politiker hat das so präsent wie er.

Überhaupt: Belesen ist er. Das haben die „sogenannten Intellektuellen“, wie er sie titulierte, weil sie ihn noch ganz anders nannten, lernen können, müssen, dürfen, wie auch immer. Bereits Kanzler, lud er Schriftsteller ein, Walter Kempowski an der Spitze. Und als sie nach dem mehrstündigen Gespräch aus dem Kanzleramt herauskamen, waren sie überrascht, dass da einer saß, der „lesen kann und schreiben“, wie Kohl nachher spottete. Er hatte „Tadellöser & Wolff“ nicht nur überflogen. Überhaupt hatte er viele der Bücher gelesen, über die andere so gerne sprachen – und machte sich eine Freude daraus, nach Inhalten zu fragen.

WIE GEISTIG UND MORALISCH  WAR SEINE WENDE?

Das ist eine Frage, über die Doktorarbeiten verfasst werden können. Moralisch, das ist ein großes Wort. Kohl wollte, als er den Begriff der geistig-moralischen Erneuerung, später Wende, prägte, Deutschland tatsächlich seine Werte nahe bringen. Nicht dass er das Land mit ihnen überziehen wollte, so weit ging es nicht, diese Art von Hybris hatte er (noch) nicht. Aber nach den Jahren des kühl-nüchternen Pragmatismus unter dem Karl Popper der Politiker, Helmut Schmidt, wollte Kohl tief gründeln, tiefer, wollte ein Gefühl fürs Land schaffen. Buchstäblich. Dazu hatte keinen oder wenig Zugang, wer nicht wusste, woher Kohl kommt.

Er war – und ist bis heute – geprägt von einem Zentrumsprälaten, Dekan Johannes Finck. Und von seinem Elternhaus, einem tiefschwarzen, katholischen, patriotischen. Der Besuch der Messe war kein Einzelereignis.

Übrigens: Als Johannes Rau, der Sozialdemokrat, der 1987 gegen ihn als Kanzlerkandidat angetreten war, Bundespräsident wurde (1999, im ersten Jahr nach Kohl), prägte der für sich den Begriff „Immer Patriot, nie Nationalist“. Das hätte der Altkanzler auch sagen können.

Moral sollte das Fundament sein, Geist die Währung seiner Politik. Es war klar, dass man an dem Anspruch nur scheitern konnte, dass man sich mit ihm sehr schnell dem Gespött ausliefern könnte. So kam es auch. Die Kabarettisten hatten ihren Spaß. Denn wer das so formuliert und wem dann Bitburg passiert, dieser Besuch am 5. Mai 1985 mit US-Präsident Ronald Reagan auf einem Friedhof, wo auch Mitglieder der Waffen-SS begraben lagen, der gerät in einen Erklärungsnotstand. Im Erklären war Kohl aber nie sehr gut. Seine Wende geriet dann auch alles in allem, wenn man sie positiv bewerten will, ökonomisch. Was in seiner Amtszeit nicht alles privatisiert wurde, von der Post und Telekommunikation angefangen. Oder die Reformen im Sozialgesetzbuch, ungefähr pro Amtsjahr eine. Die Republik wurde, dem Schwammigen im Ausdruck zum Trotz, schon härter, nicht zuletzt für Arbeitnehmer.

Die eigentliche Wende aber kam ja erst noch, 1989. Als er im Folgejahr den Umtausch der DDR-Mark in D-Mark zum Verhältnis von 1:1 durchsetzte. Das tat Kohl im Geist der Brüderlichkeit und weil er sich moralisch dazu verpflichtet fühlte, weil es doch dem Westteil der neuen deutschen demokratischen Republik besser ergangen war.

WIE IST SEIN VERHÄLTNIS ZU GELD?

Ein weites Feld. Tatsache ist, dass Juliane Weber, die in seinem Vorzimmer saß und über Jahrzehnte den Zugang zu ihm regelte, private Briefmarken bereithielt, damit die Briefe, die er nicht als Bundeskanzler schrieb, auch nicht übers Amt abgerechnet wurden. Und er legte allergrößten Wert darauf, dass es jeder wusste oder mitbekam. Diese Geschichte durfte nirgends fehlen, wenn es ums Verhältnis zum Geld und vor allem zu staatlichem Geld ging.

Aber das kann durchaus auch so gewesen sein, es passt zu ihm. Er ist bis heute sehr ehrpusselig. Vorsichtig ist er außerdem gewesen. Ihm sollte niemand am Zeug flicken können, nicht mit so etwas. Wenn einer so viele angegriffen hat wie er, so viele aus dem Amt gedrängt, besiegt, auch gedemütigt hat, liegt ja auch die Gefahr nahe, dass sich einer dafür schadlos halten will. Irgendein Gebaren lässt sich, wenn einer so lange im Amt ist, sicher auch böswillig auslegen. Bei Kohl galt darum der Beamtengrundsatz (sein Vater war ja auch Beamter, Finanzbeamter): Meide schon den bösen Schein. Das klingt nicht nur doppeldeutig, das ist auch so.

Den Euro muss man unbedingt hier auch erwähnen, weil es aus seiner Sicht die zweite Seite einer Medaille war, die andere Seite der deutschen Einheit. Der Euro als Währung für den Frieden war ihm so wichtig, so sehr wichtig, dass er ihn mit aller Kraft durchgesetzt hat; und mit Theo Waigels Hilfe, der damals CSU- Chef und Finanzminister war. Waigel hat gewissermaßen sein gesamtes politisches Kapital für den Euro verpfändet. Dass er das tat, spricht für ihn – und für Kohl. Denn Waigel ist ein Ehrenmann. Man frage dazu ruhig auch Sozialdemokraten. Oder Grüne wie Joschka Fischer.

Die Spendengeschichte hat auch mit Geld zu tun, nicht wahr? Also, da ist die Sache so: Kohl und finanzielle Unterschleifen, wie man das früher nannte – undenkbar. So etwas hätte er nie gemacht. Aber er hat andererseits manche machen lassen. Dass dabei einiges an ihm vorbeigelaufen sein soll, in seiner Partei, der CDU – ist das denkbar? Das Urteil darüber steht bis heute aus. Auch darüber, dass er sein Ehrenwort für Spender, die ihm ihr Geld für die Partei und ihren Wahlkampf anvertrauten, übers Recht stellte. Juristisch gesehen steht es aus. Politisch hat ihn Angela Merkel abgeurteilt, damals, als sie einen Artikel schrieb, noch im Amt der Generalsekretärin, der ihn den Ehrenvorsitz kostete. Am Rande bemerkt: Sie will ihm den heute auch nicht zurückgeben. Eine Revision gegen ihr Urteil erscheint nicht mehr möglich.

Nur ganz am Rande: Dass sich die Bundesregierung zu seiner Zeit von mancher militärischen Verpflichtung mit Schecks „freikaufte“, zum Beispiel im ersten Golfkrieg Anfang der 90er Jahre, hat wohl auch zu tun mit Kohls Prägung durch den Zweiten Weltkrieg. In dem starben sein Bruder und sein Onkel.

WAR ER BESTECHLICH?

Wenn jetzt nicht noch eine große, eine ganz große Enthüllung kommt, dann ganz entschieden – nein. So profan mit Geld konnte man ihn nicht locken, das Maß seiner Eitelkeit war gering. Maßanzüge, ja, die trug er (von Schneider Arnulf am Ku’damm), aber bestimmt auch, weil er so enorm umfänglich war. Zentnerschwer. In Spitzenzeiten soll er – ach, besser nicht. Er nimmt übel. Keiner von den Medien hat ihn je auf der Waage gesehen. In Badehose aber sah er schon sehr gewichtig aus. Moby Kohl. Und die Haie am Great Barrier Reef beim Besuch in Australien nahmen Reißaus.

Nur schon seine Schuhe zeigten anderes als Eitelkeit. (Unvergessen seine Slipper! Ein Paar mit Flechtwerk, dunklem, dunkelgrünem, wenn die Erinnerung nicht trügt.) Ikonen hat er gesammelt, aber ihn damit zu bestechen hätte keiner geschafft. Oder historische Ofenplatten. Münzen. Nein, bestechlich passt nicht zu Kohl.

Aber anfällig für Schmeichelei, für Liebedienerei, das war er schon. 16 Jahre Bundeskanzler! Länger als Adenauer, eiserner als der Eiserne, als Bismarck. Da glaubt man sicher mit der Zeit an die eigene Größe; und findet es angemessen, wenn die gewürdigt wird. Ganz früher wollte er Widerspruch, später immer mehr Zuspruch.

IST ER EIN FAMILIENMENSCH?

Das war er immer. Auf seine Weise. „Gechichte“ und „Famillje“ waren Wörter, die sich wie von selbst mit ihm verbanden. Es gibt Bilder, die ihn, den früheren Mittelläufer, beim Fußballspiel mit einem seiner Söhne zeigen. Mittelläufer, so nannte man den zentralen Spieler im Mittelfeld früher, zu Fritz Walters Zeiten, und auf dieser Position oder als linker Läufer spielte „Helle“ Kohl im Verein im heimatlichen Friesenheim oder in der Schulmannschaft. Allerdings machte er das mit seinem Sohn in langer Hose und in Sandalen, was zeigt, dass seine aktive Zeit doch schon ein bisschen zurücklag.

Aber im Ernst: Er fuhr aus Bonn immer wieder nach Hause, in seinen Bungalow ins frühere Reichsstädtchen Oggersheim. Gemeinsam mit Hannelore schirmte er die beiden Jungs, Walter und Peter, ziemlich unerbittlich ab. Er mochte es, zu Hause zu sein. Da konnte er lesen, vor allem Geschichtliches. Er brauchte Familie, braucht sie bis heute. Maike Richter- Kohl, die er sieben Jahre nach dem Selbstmord von Hannelore heiratete, ist sie ihm jetzt. Die Söhne sind erwachsen, eigene Wege gegangen. Und im politischen Betrieb hatte er auch eine Familie, die CDU, die sowieso, aber auch sein „Küchenkabinett“, das jeden Morgen bei ihm im Büro saß, das ihn in Strickjacke und mit bequemen Schuhen sehen durfte. Das waren, vor allen, Juliane Weber, dann Horst Teltschik, Wolfgang Bergsdorf, Eduard Ackermann, auch Anton Pfeifer, später Andreas Fritzenkötter.

WER IST FÜR IHN EIN FREUND?

Mancher aus der frühen Zeit in Ludwigshafen. Erich Ramstetter, der Dekan, ist ein Freund. Ecki Seeber, sein alter Fahrer. Dann Stephan Holthoff-Pförtner, sein Anwalt aus Essen, der zu einer der Eigentümerfamilien des WAZ-Konzerns gehört. Leo Kirch, der Medienunternehmer, und Kai Diekmann, der „Bild“-Chef; Kirch und er waren Kohls Trauzeugen bei dessen Hochzeit mit Maike Richter.

Freundschaft wächst und gedeiht, je nachdem, wie sie gepflegt wird. Kohl war lange zu mächtig, um mehr Freunde als Bewunderer zu haben. Er hatte nicht die Zeit, und es war nicht die Zeit. Mein Freund, der Kanzler – Kohl hätte so eine Selbstdarstellung auf seine Kosten nie verziehen, er war auch da sehr nachtragend. Privates sollte privat bleiben. Und da, wo aus Bekanntschaft und politischer Kameradschaft Freundschaft hätte werden können, hat Kohl dem Impuls nicht widerstanden, sie auf dem Altar seiner Selbstbezogenheit zu opfern. Wahrscheinlich war es zum Schluss eine Art psychologischer Zwang: Wer ihm nehmen könnte, was er hat, der war gefährlich, der musste weichen. Es gab eine Zeit, da hätte Wolfgang Schäuble sein Freund werden können. Sie endete, als Schäuble eine Rede hielt, die besagte, dass er der Kanzler im Konjunktiv war, damals, auf dem Parteitag 1997 in Leipzig. Und wie reagierte Kohl? Er machte Schäuble in einem Interview nach dem Parteitag zu seinem Kronprinzen, degradierte ihn öffentlich. Dass manche daran Anstoß nahmen, konnte er nie verstehen. Er glaubte, dass er es gut meinte.

Heiner Geißler, der alte Gefährte aus Mainzer und Bonner Tagen, könnte viel darüber erzählen, wenn er wollte; will er aber nicht mehr. Vorbei.

Aber unvergessen: ihre guten Zeiten, in denen sie als „Die glorreichen Vier“ bis 1976 Rheinland-Pfalz modernisierten, Kohl, Geißler, Heinz Schwarz und Bernhard Vogel. Und die schwierigen, wie die Revolte auf dem Bremer Parteitag 1989, vor der Vereinigung. Kohl war als CDU- Chef schwächer denn je, er schwächelte auch im Kanzleramt, wollte aber von Kritik nichts hören. In Bremen saß er dann krank auf dem Parteitag, über Stunden unter Schmerzen auf dem Podium. Und siegte doch über den Gegenkandidaten als CDU-Vorsitzender, Lothar Späth – dank seiner Strippenzieher im Saal, voran sein Staatsminister Lutz Stavenhagen, der wie Späth aus Baden-Württemberg kam.

Oder Norbert Blüm! Der war Kohls Knappe, so hieß er immer, weil er 16 Jahre Arbeits- und Sozialminister war. Blüm brach mit Kohl wegen der Spendengeschichte, weil Kohl die Namen der Spender nicht nennen wollte. Kohl nahm sich selbst wichtiger. Die beiden haben heute keinen Kontakt mehr.

Und die Freunde in der Welt? George Bush der Ältere? Bill Clinton? Francois Mitterrand? Boris Jelzin? Michail Gorbatschow? Er mochte den einen oder anderen, der eine oder andere mochte ihn, mag ihn, alle miteinander hatten oder haben Respekt voreinander und füreinander – aber Staaten haben Interessen, keine Freunde. Kohl konnte nur gut so tun, als sei es anders. Und konnte mit Jelzin zur Not in der Sauna Wodka trinken, was den nicht wenig beeindruckte.

IST ER TAPFER?

Mut ohne Tapferkeit ist Dummheit. Und mutig war Kohl, dumm auch nicht. Ja, er ist tapfer. Nicht im militärischen Sinne; denn das war als Kanzler auch immer ein Pfund: seine Zivilität. Er mochte die Bundeswehr, aber vor allem als Friedensarmee, und aus diesem Grund kam sie 1998 auch zu seinem Abschied vom Amt vor den Speyerer Dom, zum großen Zapfenstreich.

Tapfer hat er alle Schmähungen ausgehalten, und es waren viele. Nur einmal ist es mit ihm durchgegangen, im Mai 1991 in Halle an der Saale, als er einem Eierwerfer an den Kragen wollte. Björn Engholm, wenig später SPD-Parteivorsitzender, der als eher feinsinnig galt, meinte aber auch, dass er Kohl ganz gut verstehen könne.

Und dann diese Niederlagen! Es waren große. 1976 verlor er als Spitzenkandidat seine erste Wahl im Bund – blieb aber mit fast 49 Prozent auch nur knapp unter der absoluten Mehrheit. Oder 1980, als er CSU-Chef Franz Josef Strauß den Vortritt bei der Kanzlerkandidatur der Union lassen musste. Dem Strauß, der später gesagt haben soll, an Kohl könne man sehen, dass jeder Kanzler werden kann. Außer ihm, aber das sagte er natürlich nicht.

HAT ER DIE EINHEIT GEMACHT, ODER WAR ER NUR ZUFÄLLIG DABEI?

Ein großer General braucht auch Fortüne, sagte der Alte Fritz. Kohl hatte Fortüne. Er war Kanzler, hatte gerade eine Revolte in seiner Partei überstanden, als sich das Fenster der Geschichte öffnete. Die Einheit! Selbst Helmut Schmidt, sein Vorgänger, der ihn für einen Simpel hielt, sagt heute, dass Kohl da „zu großer Form auflief“. Fast traumwandlerisch hat er entschieden, nicht gezögert. Das war seine beste Zeit – und hat den Spruch bestätigt: Lieber eine falsche Entscheidung als gar keine. Er hat viele falsche getroffen, aber die eine, die große, die war richtig. Und in Dresden, vor hunderttausenden DDR- Bürgern, hat er die Rede seines Lebens gehalten, entschlossen zur Einheit, aber auch zur Mäßigung des nationalen Gefühlsüberschwangs.

Er behauptet, immer schon die Wiedervereinigung angestrebt zu haben. Das schreibt er auch in seinem Memoiren. So kann es sein, aber Kohl war auch der erste Bundeskanzler, der Erich Honecker in Bonn empfing, im September 1987, mit militärischen Ehren und Hymne, mit Mercedes 600 und Motorradeskorte, so dass sich der DDR-Staats- und Parteichef seinem Amt gemäß geehrt fühlte. (Allerdings nur bis zum festlichen Abendessen. Da hielt Kohl eine Rede, diesmal vom Blatt, ohne zu paraphrasieren oder zu extemporieren, die es in sich hatte.) Und in seiner CDU war auch mancher, der meinte, die DDR-Staatsangehörigkeit gehöre anerkannt. Wiederum andererseits sprach er schon Ronald Reagan bei einem Besuch in Washington darauf an, ob der ihn bei der Einheit Deutschlands unterstützen würde. Das war Jahre vorher. Theo Waigel hatte allerdings 1988 Sorge, dass Kohl keinen Plan haben könnte und äußerte das auch.

Wie sich herausstellte, hatte Kohl einen. Und seine Frau Hannelore eine Reiseschreibmaschine, auf der sie diesen niederlegen konnte.

WIE IST SEIN VERHÄLTNIS ZUR GESCHICHTE?

Innig. Er kann bis heute über die kleine und die große Entente referieren, über die Geschichte der Pfalz, über den Speyerer Dom, über das Hambacher Fest 1832, über, über, über … Es war vielleicht das größte Glück Deutschlands, dass es in der Zeit der Vereinigung im Westen von einem Kanzler regiert wurde, der die Geschichte im Kopf hatte. Und anfangs nicht nur seine eigene. Thomas Manns Vorstellung vom europäischen Deutschen – Kohl erfüllte sie vielleicht nicht in ästhetischer Hinsicht, in jeder anderen schon. Alle erdenklichen Auszeichnungen sind ihm zuteil geworden, auch das Bundesverdienstkreuz in einer Sonder-Sonderklasse, aber nichts sagt mehr als die Ehrenbürgerwürde Europas. Das hat vor ihm nur Jean Monnet geschafft. Und nach ihm schafft das so schnell auch keiner.

WAS HAT ER GEPRÄGT?

Eine Generation sicher, zwei vielleicht. Die heute Vierzigjährigen haben ja lange keinen anderen Kanzler gekannt als ihn. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen. Das Heimelige war schon nicht schlecht, die Jahre mit Würstchen und Kartoffelsalat beim „Wahl-gucken“. Es war, als bliebe Deutschland auch in den 90er Jahren in den 80ern zu Hause. Die SPD nannte das übrigens den „Mehltau“.

Nicht zu vergessen: die Medien. Er meint, er habe unter ihnen gelitten; die Journalisten meinen das umgekehrt auch. Sein Ton war schon sehr speziell, seine Witze auf Kosten von Reportern – das härtet ab. Es wirkt bis heute. Und mancher Politiker wirkte wie aus der Kohl-Schule. Joschka Fischer war als obergrüner Vizekanzler so ein Fall. Ihm wäre ein Satz wie dieser von Kohl auch zuzutrauen gewesen: „Wer sich nicht selbst imponiert, kann niemand anderem imponieren.“

IST KOHL HEUTE IN?

Das Unzeitgemäße an ihm, das kann mal in werden. Manches wird auch schon wieder zeitgemäß, sein Netzwerken zum Beispiel. Oder seine Form der Machtausübung, mit diesem ewigen Abwarten.

Wie er mit winzigem Bleistift in sein winziges Notizbuch Termine und Bemerkungen eintrug, ein Facebook der ganz anderen Art – das hat museale Größe. Dann seine Verdienste: Man muss ihn nicht mögen, um vorherzusagen, dass er im Geschichtsunterricht kommender Generationen ein großes Thema sein wird. Größer als der derzeit beliebteste Deutsche, Helmut Schmidt. Oder auch als Richard von Weizsäcker, trotz dessen langer, der ersten gesamtdeutschen Präsidentschaft.

Und, nicht zu vergessen, Abertausende von Karikaturen, die ihn als „Birne“ zeigen. Oder diese Wahlkampfwerbung der Jungen Union mit der Aufschrift „Keep Kohl“, die einen Elefanten zeigt, wie er im See badet, mit schönen Grüßen vom Wolfgangsee. Das war die Anspielung auf den Kanzler, der so gerne am Wolfgangsee in Österreich urlaubte.

Das waren Zeiten. Heute wird er 80.

 Stephan-Andreas Casdorff

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