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In den frühen Morgenstunden des Sonntags erschütterten mehrere Einschläge den Westen der ukrainischen Hauptstadt.

© Nariman El-Mofty,dpa

Raketenangriff erschüttert Menschen in Kiew: „Wir dachten, es sei ruhig – es war eine Illusion“

Russland beschießt erstmals seit drei Wochen wieder die ukrainische Hauptstadt – und das ausgerechnet zum Start des G7-Gipels. Ein Bericht aus dem Kriegsgebiet.

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Einige Wochen war es ziemlich ruhig in Kiew, nachdem die russischen Angreifer vor den Toren der ukrainischen Hauptstadt zurückgeschlagen worden waren. Viele Flüchtlinge sind zurückgekehrt. Die Stadt versucht – trotz des Krieges im Osten – ihren normalen Lebensrhythmus wiederzufinden. Fast täglich gibt es Luftalarm, doch die Kiewer beachten die Signale kaum noch. Sie flüchten nicht mehr in die Luftschutzkeller.

Doch am Sonntag kommt der Krieg erstmals seit drei Wochen wieder nach Kiew. Vier russische Raketen beobachtet Ludmila Maksimenko aus ihrer Küche. Sie wohnt einen Kilometer von dem Haus entfernt, das getroffen wird. Sie habe sich schnell im Badezimmer versteckt, saß dort fünf Minuten lang, erzählt sie.

Als sie wieder herauskommt, fliegt die nächste Rakete vorüber. Vier Mal sei sie hin und her gelaufen. Als die verängstigte Frau eine Stunde später zur Arbeit geht, liegt lag Brandgeruch in der Luft. Ludmila ist in einer orthodoxen Kirche beschäftigt, die kaum 200 Meter von der Einschlagstelle entfernt ist. Die Frau ist sehr besorgt, aber nur der Kronleuchter wurde durch die Explosionswelle beschädigt.

Eine Rakete fliegt auf den Spielplatz

Ziel des russischen Angriffs war offenbar eine Flugzeugfabrik auf der anderen Seite der Straße. Immer wieder behauptet die russische Armeeführung sie setze Präzisionswaffe ein, doch auch der aktuelle Raketenangriff zeigt ein anderes Bild. Es ist der dritte Angriff in diesem Viertel seit dem Beginn des Krieges.

Die ersten Raketen schickte Russland am 15. März, das Verwaltungsgebäude des Werks wurde teilweise zerstört, aber in dem Unternehmen konnte weitergearbeitet werden. Der zweite und dritte Angriff treffen das nahe gelegene Wohngebiet.

Am 28. April wurde die Kiewer Journalistin Vera Girych wenige hundert Meter von dem Werk entfernt in ihrer Wohnung getötet. Es ist das gleiche Haus, das am Sonntag erneut unter Beschuss liegt, auch diesmal stirbt ein Mensch. Rettungsdienste seien im Einsatz, zwei Gebäude würden evakuiert, schreibt Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko nach den Angriffen im Online-Dienst Telegram.

Bislang seien zwei Verletzte ins Krankenhaus gebracht worden, sagt er später bei einem Besuch am Ort. Es befänden sich noch „Menschen unter den Trümmern“. Andrei Antonov, Angestellter eines Versorgungsunternehmens, gibt zu, dass er Angst hat. „Wir können nicht ausschließen, dass noch mehr Raketen eingesetzt werden.“

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Eine der Raketen fliegt auf den Spielplatz des Kindergartens in dem Wohnkomplex. Sonntags sind dort glücklicherweise keine Kinder. In dem Viertel befindet sich der Lukjanowski-Markt, einer der größten im Zentrum von Kiew. Die Verkäufer waren gerade auf dem Weg dorthin, als die Explosionen zu hören sind. Sie öffnen ihre Stände an diesem Tag trotz der drohenden Gefahr.

Viele Kiewer kommen, es ist Hauptsaison für Erdbeeren und Süßkirschen. Die Verkäuferin Irina Sokolova kommt aus dem Vorort Butcha hierher. „Wir sind vor dem Beschuss Anfang März geflohen. Vor einem Monat sind wir nach Butcha zurückgekehrt, weil wir dachten, die Lage in und rund um Kiew sei mehr oder weniger ruhig. Es stellte sich heraus, dass es eine Illusion war“, sagt eine Frau unter Tränen.

Klitschko: Bewusst vor dem G7-Gipfel

Gegen Mittag gibt es weitere Explosionen in Kiew, nun in anderen Bezirken. Wie die Behörden später informieren, sei das Luftverteidigungssystem erfolgreich aktiviert worden. Nach russischen Angaben wurden an diesen Tag insgesamt 14 Raketen abgefeuert.

Vitali Klitschko wirft Russlands Präsident Wladimir Putin in der „Bild“-Zeitung vor, gezielt zivile Ziele angreifen zu lassen. „Es sieht danach aus, dass Russland bewusst den Start von G7 auf perfide Weise für einen Raketenschlag nutzen wollte.“ Außenminister Dmytro Kuleba forderte angesichts der neuen Angriffe auf Kiew schnell zusätzliche Waffen.

Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in seiner täglichen Ansprache, die unerbittlichen Raketenangriffe bestätigten, die Sanktionen gegen Russland nicht ausreichten, um der Ukraine zu helfen. „Die Luftabwehrsysteme – die modernen Systeme, über die unsere Partner verfügen – sollten nicht auf Übungsplätzen oder in Lagern stehen, sondern in der Ukraine, wo sie jetzt gebraucht werden, mehr als irgendwo sonst auf der Welt“, sagte Selenskyj.Valeriia Semeniuk

Die Autorin nimmt an dem Solidaritäts-Projekt des Tagesspiegel für ukrainische Journalistinnen und Journalisten teil.

Valeriia Semeniuk

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