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Politik: "Wir verlieren gerade den Zusammenhalt der Gesellschaft"

Der CDU-Vize über die Krise seiner Partei, die Zukunft der Sozialversicherung und seine PläneNorbert Blüm (64), war 16 Jahre lang Arbeitsminister - der Einzige, der allen Kabinetten Kohl angehörte. Blüm, der nach der Wahlniederlage 1998 erst den Ministersessel räumte und dann den Vorsitz der nordrhein-westfälischen CDU aufgab, wird nun auch die Spitze der Bundespartei verlassen.

Der CDU-Vize über die Krise seiner Partei, die Zukunft der Sozialversicherung und seine Pläne

Norbert Blüm (64), war 16 Jahre lang Arbeitsminister - der Einzige, der allen Kabinetten Kohl angehörte. Blüm, der nach der Wahlniederlage 1998 erst den Ministersessel räumte und dann den Vorsitz der nordrhein-westfälischen CDU aufgab, wird nun auch die Spitze der Bundespartei verlassen. Heute sagt er, er habe sich "zu viel in den Schrebergarten unserer Innenpolitik einsperren lassen.

Ehemalige stellvertretende CDU-Vorsitzende machen gerne Talkshows. Sie bald auch?

Ich bin für alles zu haben, was Sinn macht.

Eine Talkshow auch über die CDU? In welchem Zustand ist ihre Partei?

Ich bin kein guter Diagnostiker, aber würde sagen, in einer schwierigen. Doch in der Krise liegt auch die Chance, neu anzusetzen.

Zum Beispiel?

Dass Globalisierung etwas anderes bedeutet als der alte Nationalstaat, haben wir noch nicht begriffen. Die Börse liefert täglich Beispiele mit Zusammenschlüssen, die sich längst nicht mehr an Grenzen orientieren.

Kann es einen weltweiten Sozialstaat geben?

Den Weltstaat wird es nicht geben. Neue Spielregeln brauchen wir! Marktwirtschaft ist kein von der Kette gelassener Wild-West-Kapitalismus, sondern eine Wirtschaftsordnung, die auf den Staat als Ordnungsfaktor angewiesen ist, der auch Ausgleich organisieren kann.

Muss die CDU sozialdemokratischer sein?

Nicht wie die Sozialdemokraten. Die haben noch immer eine Affinität, zu viel vom Staat zu verlangen. Man muss stärker auf Eigenverantwortung setzen.

Ein Vorschlag ist, das Rentensystem auf Kapitaldeckung umzustellen.

Um das deutsche System komplett auf Kapitaldeckung umzustellen, wären zwölf Billionen Mark nötig - aber in der gesamten deutschen Volkswirtschaft sind gerade einmal fünf Billionen investiert.

Wie soll es denn gehen?

Es geht nicht ohne Solidarität. Solidarität ist der Kitt der Gesellschaft. Demjenigen, der den Satz erfunden hat "Jede Generation sorgt für sich selber", dem würde ich den Nobelpreis für Dummheit verleihen. Es geht nicht nur um die Optionen, die die Global Player nutzen, es geht auch um die Pflichten. Wir verlieren gerade den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Spekulanten können den Kitt nicht bieten.

Was ihr Nachfolger als Arbeitsminister, Walter Riester, macht, ist das Sozialpolitik?

Mit Verlaub, das ist viel heiße Luft. Er ist ein kluger Mann. Detailarbeit ist nicht seine große Stärke. Im Moment gibt es viele Leute, die wissen die Überschrift, können sie gut formulieren, haben aber keinen Text.

Sie selbst haben lange Jahre die Sozialpolitik verantwortet. Nun stehen wir an einem Punkt, wo das Rentensystem dringend reformiert werden muss.

In den 16 Jahren, die ich in dem Betrieb war, haben wir ständig reformiert. Die Spuren und Narben können Sie an mir bewundern. Das war keine von Beifallsstürmen umtobte Traumreise. Aber man ist nie am Ziel.

Da war lange Zeit, zu reagieren.

Wir haben reagiert. Ohne unsere Reformen wären die Beiträge 2030 um zwölf Prozent höher. Die SPD dagegen hat Reformen zurückgenommen. Das ist Geisterfahrerei. Und jetzt steckt sie in der Sackgasse.

Wie stark müßten die Renten sinken und die Arbeitszeit steigen?

Die Leute müssen keine Angst haben. Die Renten sollen nicht gekürzt werden, nur weniger steigen. Die Lebensarbeitszeit kann nicht sinken, sonst können wir bald vom Bafög direkt in die Rente wechseln.

Also Nullwachstum bei den Renten?

Nein, ein sachterer Anstieg. Und Erhöhung der Lebensarbeitszeit. Das ist auch deshalb zumutbar, weil die Alten fitter sind. Die 70-Jährigen heute haben den Gesundheitszustand der 60-Jährigen vor 20 Jahren.

Also arbeiten bis 70?

Lasst mehr Freiheit zu. Wer früher gehen will, soll es tun. Aber er kann nicht die gleiche Rente kriegen. Mehr Freizeit oder mehr Geld, das ist die Wahl. Aber Alter ist kein Kündigungsgrund. Auf die Altersgrenze zu verzichten ist aber an denen gescheitert, die sonst immer von Flexibilisierung reden: den Arbeitgebern und der FDP. Die Arbeitgeber verstecken sich da gern hinter dem Gesetzgeber, denn sonst hätten sie die Beweispflicht zu sagen: Hör mal, Du schaffst das nicht mehr.

Länger arbeiten soll die Lösung sein?

Nicht nur. Warum müssen wir denn per Kopfsprung von der Arbeit in den Ruhestand? Im Industriezeitalter haben wir das Arbeitsleben nach fast militärischem Muster organisiert: Im Gleichschritt marsch, im Gleichschritt raustreten. Das ist nicht dem Lebensrhythmus angepasst.

Wollen Sie nicht Riester als Vordenker bei Ihrer Gewerkschaft, der IG Metall, ersetzen?

Das würde mich schon reizen. Wir können nicht mit der Grob-Alternative weitermachen, die heißt: ganz rein oder ganz raus, immer oder nie. Das ist banal bis brutal.

Ihre Heimat war die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft. Von den Sozialausschüssen der CDU hört man gar nichts mehr.

Es ist eine fast tragische Konstellation. Zu keiner Zeit hatten die katholische Soziallehre und die evangelische Sozialethik so viele Chancen wie heute. Ihre großen Konkurrenten, mit denen sie sich mindestens 150 Jahre rumgeschlagen haben, der Sozialismus und der Kapitalismus, sind ideologisch ausgelaugt. Ausgerechnet im Moment des ideellen Triumphs fehlen die Truppen.

Leiden Sie daran?

Es macht mich nicht gerade fröhlich. Im übrigen darf die Kirche sich nicht nur auf die Formulierung von Denkschriften beschränken. Sie muss kämpferisch ihre Position einbringen. Das geht nicht mit Schmusen. Papst Pius XII. hat mal Kommunisten exkommuniziert, weil sie mit der Lehre der Kirche nicht übereinstimmten. Es wäre mehr als ein symbolischer Akt, wir würden mal einen halsabschneiderischen Spekulanten aus der Kirche rausschmeißen.

Die CDU setzt jetzt auf Jüngere. Die Mitglieder aber sind älter. Wie können Politiker Ihres Jahrgangs beteiligt werden?

Wir dürfen nicht einem Jugendtick folgen. Die Erfahrung in der Wirtschaft hat gezeigt, dass es ihr nicht gut tut, wenn sie 50-Jährige zum alten Eisen rechnet. Ich kenne junge Wilde und alte Wilde. Ich wäre ganz froh, wenn ich bei den alten Wilden Platz fände.

Auf welcher Wiese würden Sie gerne weiden?

Auf dem Feld der Weltwirtschaft. Es geht um Gerechtigkeit. Und was ist daran gerecht und vernünftig, wenn in den gleichen Erdteilen, in denen 800 Millionen Menschen arbeitslos sind, 300 Millionen Kinder zur Arbeit gezwungen werden? Oder dass Länder, in denen die Bevölkerung kein Hemd auf dem Leib trägt, Raketen kaufen? Wer glaubt, das hätte mit Leistung zu tun? Die einen werden durch Schwindsucht gefährdet, die anderen - was Sie an mir studieren können - durch Fettsucht. Das anzugehen hat nicht nur mit Moral zu tun, sondern auch mit Klugheit. Wenn die Elenden der Welt sich auf den Weg in die Wohlstandsfestung Europa machen, wird keine Asylgesetzgebung und keine Fremdenpolizei sie zurückhalten.

Diese Debatte wird seit mindestens 20 Jahren geführt. Waren Sie also dumm?

Ja. Es gehört zu der kritischen Bilanz, dass ich mich zu viel in den Schrebergarten unserer Innenpolitik habe einsperren lassen. Ich habe mich auf Marktplätzen rumgeschlagen, weil Reisetabletten nicht von der Krankenkasse gezahlt werden sollten oder Heftpflaster von der AOK. Wenn Sie mal die Zwölfjährigen in den Bergwerken in Kolumbien haben schuften sehen, erkennen Sie die Disproportionalität unserer Aufregung.

Gehört zur Entwickungspolitik der Export von Kernkrafttechnik?

Ja. Besser die Menschen arbeiten in einem sicheren Kernkraftwerk als in einem Bergwerk, in das Sie hierzulande keinen Hund schicken würden. Aber auch in der Solarenergie liegt ein ungehobener Schatz.

Sie haben die Einwanderung angesprochen. Aus der Union heißt es jetzt, Deutschland braucht ein Einwanderungsgesetz. Braucht Deutschland weiter ein Grundrecht auf Asyl?

Ja. Wer in Not ist, wer politisch verfolgt ist, dem müssen wir Schutz gewähren. Aber Asyl ist nicht das Instrument, mit dem wir die Armutsprobleme der Welt lösen. Das ist eine weitere Frage der Globalisierung: Die Finanzströme jagen ungebremst um den Erdball. Sollen die Menschen um die Erde fliegen wie die Zugschwalben, um sich dort niederzulassen, wo gerade Konjunktur ist? Soll jeder durch die Welt hopsen, wo gerade ein Arbeitsplatz ist? Das wäre eine Welt um den Preis der Heimatlosigkeit.

Wie halten wir dagegen?

Die Arbeitsplätze müssen dorthin, wo die Menschen sind.

Diskutiert dann nicht auch Ihre Partei falsch?

Wir dürfen nicht nur beim Ausländerrecht ansetzen. Es kann nicht die Lösung sein: Für die deutschen Arbeitslosen, die keinen Spargel stechen wollen, holen wir uns die Polen, und für die deutsche Wirtschaft, die zu faul war, Computerfachleute auszubilden, holen wir die Inder. Das ist falsch. Die Mobilität darf nicht über alles gesetzt werden. Ein flexibler Mensch ist offenbar ein Mensch ohne Rückgrat. Das ist ein Missverständnis.

Alle Computerarbeitsplätze nach Indien?

Nicht alle. Aber auch da hat die Marktwirtschaft ihren Sinn. Wir brauchen eine Ausbildung, die die Menschen nicht nur im ersten Drittel ihres Lebens mit Wissen versorgt. Vielleicht müssen wir nicht einmal das Zeitbudget verändern, es muss nur anders verteilt werden. Studenten müssen nicht mit 30 noch im Spielkasten der Universität mit dem theoretischen Gießkännchen hantieren. Den Irrtum bezahlen wir teuer - damit, dass wir für Ältere nur Sozialpläne haben. Es ist einfallslos, wie die deutsche Wirtschaft lange ihre Personalprobleme gelöst hat. Ich war stellenweise zu gutgläubig gegenüber den Bossen.

Bereuen Sie das?

Ja.

Ihr Landesverband NRW hat den Abschied von CDU-Chef Wolfgang Schäuble eingeleitet. War das konstruktiv?

Ich war dagegen. Aber man muss aus jeder Situation lernen.

Was soll jetzt mit Schäuble geschehen?

Die CDU braucht Schäuble. Die Partei braucht seine analytische Begabung, die ich bewundere, weil ich sie so nicht besitze.

Hat Helmut Kohl den Titel "der bedeutendste Kanzler der Bundesrepublik" verdient?

Ja, denn es sind Weichenstellungen gewesen. Der Zug kann jetzt schnell oder langsam fahren, von dem Gleis kommen wir nicht mehr runter. Das erkenne ich an. Bis heute.

Der rheinland-pfälzische CDU-Chef Christoph Böhr hat gerade Edmund Stoiber als Kanzlerkandidaten vorgeschlagen.

Das sind ungelegte Eier. Wir müssen erstmal wieder so weit kommen, dass wir einen Kanzlerkandidaten benennen können.

Unter Angela Merkel?

Ich freue mich, dass eine Frau die CDU führen wird.Das Gespräch führten Ingrid Müller und Stephan-Andreas Casdorff

Ehemalige stellvertretende CDU-Vorsitzende machen

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