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Ukrainische Soldaten inspizieren ein improvisiertes russisches Militärkrankenhaus in einer Kirche in Isjum, Region Charkiw, nach dem Rückzug russischer Truppen.

© Foto: Kostiantyn Liberov/AP/dpa

Mutmaßliche Briefe russischer Soldaten in Isjum: „Weigere mich, meinen Dienst zu tun – weil ich moralisch erschöpft bin“

Demoralisierung und Angst: Briefe russischer Soldaten geben Aufschluss über die Verfassung der Einheiten. Unter den Autoren sind auch höherrangige Armeemitglieder.

Briefe, die russische Soldaten in Isjum zehn Tage vor der Rückeroberung der Stadt durch ukrainische Streitkräfte geschrieben haben sollen, zeichnen das Bild einer demoralisierten und verzweifelten Truppe.

Isjum war Ende März von den russischen Einheiten erobert worden. In der vergangenen Woche wurden diese unter dem Druck ukrainischer Gegenoffensiven von dort wieder vertrieben. Der Rückzug lief sehr schnell und ungeordnet ab. Einige russische Armeeangehörige sollen auch in Zivilkleidung geflohen sein.

„Wegen fehlender Urlaubstage und weil ich moralisch erschöpft bin, weigere ich mich, meinen Dienst in der Spezialoperation auf ukrainischem Territorium zu erfüllen“, zitiert die „Washington Post“ beispielsweise aus dem Brief eines Kämpfers, der sich als Kommandeur eines Flugabwehrraketenzuges aus der Region Moskau ausgibt. Die zehn handgeschriebenen Briefe sind demnach allesamt datiert auf den 30. August und verfasst von männlichen Autoren.

Sie seien in einem Haus gefunden worden, in dem russische Armeeangehörige kampierten, neben zurückgelassenen Habseligkeiten wie Stiefeln, Uniformen oder Unterstützungsbriefen von russischen Schulkindern. Entdeckt worden seien die Briefe von ukrainischen Streitkräften, die sie der „Washington Post“ zur Verfügung stellten.

Die Briefe legen nahe, dass die Verfasser so niedergeschlagen und demoralisiert waren, dass sie ihre Vorgesetzten um ihre Entlassung bitten wollten. Sie beklagen sich über ausgebliebene Urlaubstage, offenbaren Verzweiflung sowie schlechte medizinische Versorgung.

Ukrainische Soldaten fahren auf einem Schützenpanzer im kürzlich zurückeroberten Gebiet von Isjum.
Ukrainische Soldaten fahren auf einem Schützenpanzer im kürzlich zurückeroberten Gebiet von Isjum.

© Foto: Evgeniy Maloletka/AP/dpa

Die Schriftstücke wurden noch nicht von unabhängigen forensischen Expert:innen  geprüft, die „Washington Post“ geht jedoch aufgrund des Fundortes von ihrer Echtheit aus.

Andere Soldaten beschweren sich in den Schriftstücken darüber, dass ihnen versprochener Heimaturlaub zu wichtigen familiären Anlässen, wie der eigenen Hochzeit oder der Geburt ihrer Kinder, verweigert worden sei. Ein Soldat bat um seine Entlassung mit der Begründung, dass sich sein „Gesundheitszustand verschlechtert hat und ich nicht die notwendige medizinische Hilfe erhalten habe“. Ein anderer schreibt, er leide unter „körperlicher und moralischer Erschöpfung“.

Die Briefe zeichnen ein Bild von niedergeschlagenen Einheiten, die sich nach monatelangen Kämpfen verzweifelt nach ihrem Zuhause sehnen und sich Sorgen um ihre Gesundheit machen. In den vergangenen Monaten hatte es Berichte gegeben, dass russische Einheiten teils unter falschen Angaben und Versprechungen für den Krieg in der Ukraine rekrutiert wurden.

Der ähnliche Stil, in dem die zehn Briefe verfasst wurden, lässt vermuten, dass sich die Verfasser für ihr Anliegen zusammentaten. Unklar ist, ob die Soldaten die Briefe an ihre Vorgesetzten übergaben oder sie nach dem Verfassen der Mut verließ und die Briefe nie ihre Adressaten erreichten. 

Die Briefe erregten die Aufmerksamkeit der ukrainischen Soldat:innen, als sie in Isjum ankamen. Einige wurden anschließend auch auf Twitter geteilt.

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Neben den Schriftstücken und anderen Habseligkeiten blieb in Isjum auch einiges an russischem Militärequipment zurück. Die Stadt war ein Hauptstandort für die Wartung von russischen Fahrzeugen und wurde von den russischen Streitkräften offenbar überstürzt verlassen.

Vom ukrainischen Militär veröffentlichte Bilder zeigten Kisten mit Munition, Panzern und militärischem Gerät, dass russische Truppen in den zurückeroberten Gebieten zurückgelassen hatten. 

Am Donnerstagabend war zudem der Fund eines Friedhofs mit mehr als 440 Gräbern in Isjum bekannt geworden. Darunter war dem Internetsender Hromadske zufolge auch ein Grab, in dem bis zu 25 getötete ukrainische Soldat:innen liegen.

Aussagen des ukrainischen Vermisstenbeauftragten zufolge handelte es sich nicht um ein Massengrab, sondern um viele Einzelgräber. „Ich möchte das nicht Butscha nennen - hier wurden die Menschen, sagen wir mal, zivilisierter beigesetzt“, so Oleh Kotenko in der Nacht zum Freitag. (mit dpa)

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