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Brandenburg: Abschied am leeren Grab

Am 17. April 1945 fiel Kurt Geiger bei den Kämpfen im Oderbruch - Die lange Suche seiner Cousine

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Am 17. April 1945 fiel Kurt Geiger bei den Kämpfen im Oderbruch - Die lange Suche seiner Cousine Die letzten Schritte sind die schwersten. Es ist nicht der kleine Anstieg bei Kunersdorf im Oderbruch, der der 76-jährigen Ruth Loebens zu schaffen macht. Anstiege ist sie aus ihrem Heimatdörfchen Mettlach-Dreisbach im Saarland gewohnt. Ihr kleines Haus liegt dort hoch am Hang, mit Blick auf die Saar. Eben noch hat sie mit neugierig-freundlichem Blick und leisem Humor aus ihrem Leben erzählt. Jetzt, auf den letzten Metern zum Soldatenfriedhof bei Kunersdorf, wirkt sie müde. Schweigen. In ihrem Gesicht beginnt es zu arbeiten. Dann sagt sie mit leiser Stimme: „Ich habe Angst.“ Angst nach all den Jahren, nach den zahlreichen Briefen und Telefonaten, nach der zehnstündigen Zugfahrt quer durchs Land. Angst vor dem Ende ihrer Suche nach ihrem Cousin Kurt Geiger, gefallen am 17. April 1945 bei den Kämpfen im Oderbruch. „Das Ergebnis aller Nachforschungen führte zu dem Schluss, dass Kurt Geiger mit hoher Wahrscheinlichkeit bei den Kämpfen, die im April 1945 in und um Berlin geführt wurden, gefallen ist.“ Mehr Gewissheit gab das Gutachten des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes vom Juli 1979 „über das Schicksal des Verschollen“ nicht her. Das Gutachten war nötig um Kurt Geiger amtlich für tot erklären zu lassen. Seine Eltern starben Ende 1979. Der Nachlass sollte vorher geregelt, der einzige Sohn auch amtlich tot sein. In den Morgenstunden des 16. April 1945 beginnt an der Oder eine der letzten Großoffensiven des Zweiten Weltkrieges. Knapp 1 Millionen Soldaten der Roten Armee stehen 130000 deutschen Soldaten gegenüber. Von den 33000 sowjetischen und polnischen und 12000 deutschen Soldaten ist Kurt Geiger einer, der bei dieser Schlacht sein Leben ließ und dessen sterbliche Überreste bis heute nicht gefunden sind. Kurt Geiger aus dem nordrhein-westfälischen Krefeld. Für das Mädchen Ruth damals, in den 30er Jahren, ein außergewöhnlicher Ort. Geprägt durch das überschaubare Heimatdorf galt ihr Krefeld als riesengroße Stadt. Und wer aus einer riesengroßen Stadt kam, der war etwas Besonderes. „Mit Kurt konnte ich bei meinen Freundinnen immer angeben“, erinnert sie sich. Fast schon zwingend erschien es der kleinen Ruth, dass sich das Riesengroße der Stadt auch in ihrem Cousin zeigt: mit über zwei Metern Größe „war er ein sympathischer Lulatsch“. 1940 erhält Kurt Geiger seine Einberufung zur Luftwaffe. Er ist 18. Vier Jahre später wird er bei einem Abschuss über Oberschlesien, im Nordwesten Polens, schwer verletzt. Ab Januar 1945 ist Geiger, mittlerweile Unteroffizier, auf Lehrgang an einer Blindflugschule in Prag. Anfang April dann die Abberufung. Soweit die Fakten. Sie bleiben für Ruth Loebens lange Zeit neben den Kindheitserinnerungen die einzigen Informationen. Sie gibt sich damit nie zufrieden. Und je älter sie wird, umso drängender stellt sich ihr die Frage nach dem Schicksal ihres Cousins. Die Suche, die sie vor vielen Jahren begann, war nicht einfach. An wen sollte sie sich mit den wenigen Information auch wenden? Wie so viele war Kurt Geiger im April 1945 in großer Eile an die Oder geschickt worden. Rekruten und Altgediente der verschiedenen Waffengattungen, selbst Verwundete aus dem Genesungsurlaub, waren in den schnell gegründeten Einheiten zusammengewürfelt worden. Oft lassen sich von diesen Einheiten in den Unterlagen nicht einmal die Namen der Führungsoffiziere finden. „Bei den Kämpfen, die im April 1945 in und um Berlin geführt wurden, gefallen.“ – Ein hilfloser Standardsatz aus dem Gutachten des Suchdienstes. Oft genug glich die Suche der, nach der berüchtigten Stecknadel im Heuhaufen. Doch dann 2001, als Ruth Loebens schon nicht mehr damit rechnete, machen fünf Kameradenbriefe der jahrelangen Ungewissheit ein Ende. Eine Cousine, die den Nachlass der Eltern Kurt Geigers verwaltete, fand vor vier Jahren das kleine Bündel mit den Briefen. Die Mutter hatte nichts unversucht gelassen, um zu erfahren, was mit ihrem Sohn passiert war. Und sie fand fünf ehemalige Soldaten, die sich an Kurt erinnerten. Als die russische Artillerie am 16. April um 3 Uhr mit dem Beschuss der deutschen Linie beginnt, hat die Kompanie, der Kurt Geiger zugeteilt war, östlich von Kunersdorf am Friedländer Strom Stellung bezogen. Gefechtsstand ist der Dammkrug, ein Wirtshaus, gut einen Kilometer außerhalb des Dorfes. Nach dem morgendlichen Artilleriehagel herrscht Ruhe. Ein Spähtrupp, der am späten Abend über den kleinen Fluss aufbricht, kehrt ohne Feindberührung in der Nacht zurück. Doch in den folgenden Stunden rücken die ersten Stoßtrupps russischer Soldaten unbemerkt bis auf 50 Meter an die deutsche Stellung heran. In den frühen Morgenstunden des 17. April, erstes Tageslicht legt sich auf das hügelige, vom Regen aufgeweichte Ackerland, macht sich erneut ein Spähtrupp auf den Weg über den Friedländer Strom. „Kurt ging mit noch 13 bis 15 Kameraden zum Spähtrupp vor“, schreibt Walter Schmidt in seinem Brief vom April 1947. Gut getarnt lagen die russischen Soldaten auf dem Feld. Erst als der Spähtrupp auf ihrer Höhe war, eröffneten sie von beiden Seiten das Feuer. Der deutsche Offizier gibt noch den Befehl zum Rückzug, bevor er fällt. „Bei diesem Rückzug wurde auch Kurt verwundet. Wie zurückgekommene Kameraden dann erzählten, hätte Kurt einen Bauch- oder Brustschuss bekommen. Soweit mir bekannt ist, hat man Kurt bis hinter den Dammkrug geschleppt und zwar bis auf die andere Seite der Alten Oder, da ja die Brücke gesprengt war. Tage später hörte ich dann, dass man Kurt über einen Notsteg bis in den Garten vom Dammkrug gebracht hätte, wo er dann seinen Verletzungen erlegen sei“, schreibt Walter Schmidt weiter. Zwei Briefe von anderen Soldaten bestätigen Schmidts Bericht. Endlich hatte Ruth Loebens Gewissheit über das Schicksal ihres Cousins. Was passiert war, das war geklärt. Doch das Wo? Dieses Kunersdorf zu finden, so einfach war das nicht. Die unterschiedlichen Schreibweisen des Ortsnamen in den Briefen und als Ruth Loebens einen Atlas zur Hilfe nimmt, findet sie gleich mehrere. Es war wie verhext. Bis sie 2003, zwei Jahre nach dem sie die Briefe erhalten hatte, eine kleine Meldung in der Zeitung „Stimme und Weg“ des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge entdeckte. Gisela Steinke aus Wittenberge in der Prignitz schreibt über ihre Eindrücke, als sie zum ersten Mal vor dem Grab ihres Vaters auf dem Soldatenfriedhof Kunersdorf steht. Ruth Loebens rief sie an. Ein Mosaiksteinchen fügte sich in das andere. Gisela Steinke fragt in Kunersdorf nach. Ja, die „Alter Oder“ gibt es hier, wird heute Friedländer Strom genannt. Auch den ehemaligen Dammkrug gibt es noch. Vor 60 Jahren mussten sich die deutschen Soldaten über einen Notsteg über den Friedländer Strom retten, weil die Brücke gesprengt war. Heute führen wieder nur ein paar Bretter über das drei Meter breite Flüsschen. Die alte Brücke, mittlerweile abgerissen, wird durch eine neue ersetzt. Vom Dammkrug steht noch das denkmalgeschützte Fachwerkhaus, ausladend und weiß gestrichen. Dahinter Ackerland im Frühjahrsnebel, frisch gepflügte Felder und blasses, noch unentschlossenes Grün. Doch die vier Tage im April 1945 haben das Oderbruch bis heute geprägt. Die Wälder sind durchzogen von Schützengräben und alten Gefechtsständen und immer wieder werden Munitionsreste gefunden. Soll gebaut werden, muss zuerst nach Munition gesucht werden. Im vergangenen Herbst, als die Arbeiten für die neue Straße zwischen Kunersdorf und Neutrebbin begannen, wurde eine 250 Kilobombe gefunden. Und die Überreste von drei Gefallenen. „Diese Kämpfe gehören noch immer zu unserem Alltag“, erzählt Erdmute Rudolf, die zehn Jahre lang Bürgermeisterin von Kunersdorf war. Noch heute ist sie Ansprechpartnerin für die, die in das Dorf kommen, sei es wegen der barocken Kirche, der Säulenkolonnaden auf dem Friedhof oder wegen des Soldatenfriedhofs. Zu ihr kam auch Ruth Loebens, als sie sich nach langen Überlegungen jetzt auf den Weg nach Kunersdorf machte. Seit dem vergangenen Jahr hat Kurt Geiger hier symbolisch seine letzte Ruhestätte. Ein schlichtes Namensschild erinnert an ihn auf dem Soldatenfriedhof. Vielleicht gehört er zu den 95 unbekannten Soldaten, die hier in einem Sammelgrab bestattet wurden. Vielleicht aber sind seine sterblichen Überreste irgendwo im Umkreis von Kunersdorf vergraben, bleiben für immer unentdeckt oder werden bei Bauarbeiten gefunden. Die Angst im Gesicht von Ruth Loebens ist tiefer Trauer gewichen. Die letzten Schritte ging sie allein. Allein steht sie vor dem schlichten Namensschild, das im Waldboden steckt. Es ist nicht wichtig, dass das Grab leer ist. Sie kann endlich Abschied nehmen. 23 Jahre alt war ihr Cousin als er starb. Fast 60 Jahre hat es gedauert, ein Grab zu finden.

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