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Brandenburg: Auf dem Weg zur Läuterung

Zwischen Berlin und Bad Wilsnack ist einer der wichtigsten mittelalterlicher Pilgerpfade wiederbelebt worden

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An manchen Stellen kann dieser Weg die Menschen, die ihn betreten, schier in die Verzweiflung treiben. Dann will man fluchen, umdrehen, sofort nach Hause gehen und von all dem nichts mehr wissen. Dann steht man auf feuchtem Waldboden, der unter den Füßen mehrere Zentimeter tief zusammensackt und zu einem braunen Brei verklumpt, der das Vorankommen fast unmöglich macht. Doch hat man diesen Teil des Wegs erst mal hinter sich gelassen, kommt wieder eine Strecke, auf der man mühelos und zügig vorankommt. Dann ist der Weg mit Schotter aufgefüllt oder mit Steinplatten ausgelegt und führt vorbei an grünen Feldern und Wiesen, an Weiden mit Kühen und Schafen, an kleinen Bächen, gotischen Kirchen und Fachwerkhäusern.

Wenn man all das hinter sich gelassen hat, wenn man an Orten wie Bötzow, Linum, Fehrbellin, Garz, Manker oder Kyritz vorbeigekommen ist und die 130 Kilometer lange Strecke zwischen Berlin und Bad Wilsnack bewältigt hat, dann hat man sie schließlich vielleicht erfahren, die Läuterung der Seele, die religiöse Einkehr. Religiöse Einkehr? Läuterung? 130 Kilometer? Vermutlich sind es heutzutage nicht mehr viele Menschen, die hierzulande die Strapazen einer solchen Wanderung aus religiösen Gründen auf sich nehmen würden, um an einem Wallfahrtsort Fürbitte zu halten. Vor über 600 Jahren jedoch pilgerten jährlich mehrere hunderttausend Gläubige aus ganz Europa nach Bad Wilsnack, in die Wunderblutkirche St. Nikolai. Dort wurden drei, nach einem Kirchenbrand von 1383 unversehrte Hostien aufbewahrt. Weil sie in der Asche des abgebrannten Gemäuers rötlich schimmernd hervorstachen, glaubten die Menschen, die Oblaten seien mit dem heiligen Blut Christi getränkt.

Es ist nicht mehr viel, was heutzutage noch an die Bedeutung des kleinen Örtchens in der brandenburgischen Prignitz erinnert. Dabei war Bad Wilsnack nach dem spanischen Santiago de Compostella mit seinem Jakobsweg einer der wichtigsten Wallfahrtsorte im mittelalterlichen Europa. Und der Pilgerweg dorthin eine der wichtigsten Straßen im damaligen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Doch die Pilgerbewegung quer durch die Mark Brandenburg fand ein abruptes Ende, als Joachim Ellefeld, evangelischer Pfarrer der Wunderblutkirche, die Hostien 1552 verbrannte.

Einer, der an die Pilger-Geschichte erinnern will, ist der Architekturprofessor Rainer Oefelein. In den zurückliegenden Jahren begab er sich immer wieder auf den Weg von Berlin nach Bad Wilsnack, um nach Spuren des einst so bedeutenden Pilgerwegs zu suchen. In Zusammenarbeit mit seiner Frau, der Mittelalterhistorikerin Cornelia Oefelein, fand er nach und nach zahlreiche Hinweise auf den Verlauf der Strecke, entdeckte zeitgeschichtliche Dokumente, mit deren Hilfe er den historischen Weg ungefähr zu rekonstruieren versuchte. Die Ergebnisse seiner Arbeit machte er im vergangenen Jahr in einer Wanderausstellung öffentlich zugänglich.

Vor drei Wochen dann, zu Ostern, wurde der Pilgerweg mit einer ersten Wanderung wiederbelebt. Hinweisschilder aus Blech weisen den Weg der Strecke, die an der „Heilig-Geist-Kapelle“ am Alexanderplatz und am Heiligen See im Nordwesten von Berlin aus der Stadt führt.

Werner Sommer kann sich an diesen Ostersonnabend noch genau erinnern. Der 77-jährige Mann mit dem schlohweiß Haar und dem wuchtigen Oberkörper sah an diesem Sonnabend eine Gruppe Menschen durch Bötzow laufen. Einige von ihnen trugen mittelalterliche Kostüme. Sie durchquerten das kleine Dorf gleich hinter Berlin, blieben kurz vor der Kirche stehen und liefen dann weiter in Richtung Bötzow-West. Dort führt der Pilgerweg durch den Wald. Eichen und Fichten säumen diese Teilstrecke. Auf die besondere Bedeutung dieses Waldwegs weist ein Schild mit der Aufschrift „Alte Hamburger Poststraße“ hin. Die Route des Pilgerwegs habe sich auf einem Teilabschnitt mit dem Verlauf der großen Handelsstraße zwischen Berlin und Hamburg gedeckt, erklärt Sommer. Als Ortschronist hat er zehntausende Bücher, Dokumente und Urkunden zur Geschichte seines Heimatortes zusammengetragen. Sorgfältig geordnet und gestapelt liegen sie in meterhohen Regalen in seinem Haus.

Daran, dass die Wiederbelebung des Pilgerwegs auch den Tourismus in Bötzow ankurbeln wird, glaubt Sommer jedoch nicht. „Ach, das ist doch nur etwas für Menschen, die sich für Geschichte oder Religion interessieren“, sagt er mit einer abschätzigen Handbewegung.

Auch Mareike Hoffmann und Dagmar Chrzan wissen nicht so recht, ob sie an den touristischen Aufschwung durch den Pilgerweg glauben sollen. Die beiden arbeiten als so genannte Touristikassistentinnen in der Wunderblutkirche in Bad Wilsnack. Sie organisieren Führungen durch die Kirche, zeigen den Besuchern den Wunderschrein, in dem die gefundenen Hostien einst aufbewahrt wurden, beantworten Fragen der Gäste. „Das ist eine klasse Aufgabe, man lernt so viele interessante Menschen kennen“, sagt Dagmar Chrzan, eine Frau mit beherztem Auftreten und robuster Statur. An manchen Tagen kommen bis zu einhundert Besucher in die Kirche. Sie reisen aus ganz Deutschland, Schweden oder Großbritannien an – per Auto, Bahn oder Bus.

Die Besucher seien beeindruckt von den mittelalterlichen Reliquien, Wappenzeichen und Siegeln, die hinter Glas zu sehen sind, erzählt Dagmar Chrzan. Dennoch sind es am Ende des Tages nicht sonderlich viele Münzen, die Mareike Hoffmann aus der kleinen hölzernen Spendenbox holt. Zu wenig für die so dringend notwendige Sanierung der Kirche, deren Innenwände mit feuchten, gelblichen Flecken bedeckt sind. Etwa fünf Millionen Euro würde man brauchen, um das stattliche Kirchenhaus am malerischen Marktplatz von Bad Wilsnack rundum zu erneuern. Ein erster, winzig kleiner Bruchteil dieser Summe könnte vielleicht schon am 24. Juni eingenommen werden. Dann gibt Opernsänger Gunther Emmerlich in der Wunderblutkirche ein Konzert. Ob er zu diesem Auftritt über den Pilgerweg kommen wird, ist nicht bekannt. Verkehrt wäre es jedenfalls nicht – so er denn Läuterung sucht.

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