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Brandenburg: Aufwindsuche

Nach Jahren des Niedergangs sehen Experten die einstige Industriestadt Wittenberge wieder im Aufschwung. Die Stadt setzt vor allem auf ihre Lage

Von Matthias Matern

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Wittenberge - An diesem Tag hat der Aufschwung im Elbhafen von Wittenberge frei. Neben den beiden nüchternen Bürocontainern, in denen auch Babette Schnickes Schreibtisch steht, schweißen lediglich ein paar Bauarbeiter im Auftrag eines Kunden an einem Blockheizkraftwerk. Auf mit weißen Linien abgetrennten Flächen stehen mehrere gestapelte Transporttanks, ansonsten ist noch viel Platz auf dem rund 21 000 Quadratmeter großen Terminal. Rund sechs Millionen Euro sind den vergangenen vier Jahren in den Prignitzer Binnenhafen investiert worden. Die Logistik-Branche ist nach Jahren des Niedergangs einer der großen Hoffnungsträger. Ein Schiff wird in Wittenberge an diesem Tag allerdings nicht erwartet – wie so oft. „Unser Problem ist, dass der Wasserpegel oft zu niedrig ist. Außer bei Hochwasser natürlich“, sagt Bürokauffrau Schnicke, die hier den Laden schmeißt, wenn ihr Chef nicht da ist.

Ende des 19. Jahrhunderts war Wittenberge eine prosperierende Industriestadt. Dampfschiffe legten auf ihrem Weg von Hamburg nach Berlin in der aufstrebenen Stadt an der Elbe an. Das Eisenbahnnetz verband Wittenberge mit den wichtigsten Städten der Region. 1846 entstand eine Seifenfabrik, 1849 eine chemische Fabrik und 1875 ein Eisenbahn-Ausbesserungswerk. 1903 schließlich baute die in New York City ansässige Firma Singer Manufacturing Company eine Nähmaschinenfabrik in der größten Stadt der Prignitz. Das imposante Rathaus und die stolzen Gründerzeitvillen früherer Industriemagnaten und Kaufleute spiegeln den damaligen Wohlstand wider. 1943 hatte Wittenberge sogar knapp 35 000 Einwohner. Heute sind es gerade einmal gut 17 000. Treffen die Prognosen des brandenburgischen Landesamtes für Bauen und Verkehr zu, schrumpft Wittenberge bis 2030 sogar auf 13 027 Einwohner.

Eingeläutet wurde der Abstieg mit dem Fall der Mauer. Ende 1991 gingen auch im VEB Nähmaschinenwerk Veritas, der 1955 das Singer-Erbe angetreten hatte, die Lichter aus. Rund 3200 Arbeiter saßen auf der Straße. Auch das Zellstoffwerk und die Ölmühle wurden geschlossen – Wittenberge und die gesamte Prignitz versanken in der wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit. Inzwischen aber soll sich der Wind gedreht haben. Nach Meinung von Brandenburgs obersten Wirtschaftsförderer, Steffen Kammradt, Geschäftsführer der Zukunftsagentur Brandenburg (ZAB), ist die Stadt sogar im Aufwind. „Mittlerweile hat die Stadt mit die größte Dynamik im Land“, sagt der ZAB-Chef. Festmachen lässt sich der positive Trend laut Kammradt an Ansiedlungen wie der von Austrotherm. Der österreichische Dämmstoff-Spezialist baut in Wittenberge ein neues Werk. Insgesamt investiert das Unternehmen rund 40 Millionen Euro, 70 neue Jobs sollen entstehen. Vergangenen Herbst erweiterte zudem die seit 1991 ansässige Prignitzer Chemie GmbH für rund 25 Millionen Euro ihre Produktionsanlagen. An der Zahl der Arbeitslosen hat sich allerdings nicht viel geändert. Gesunken ist sie in gleichem Maße wie die Einwohnerzahl.

Dennoch sind die Perspektiven heute offenbar besser als früher. Schnicke ist eine Rückkehrerin. Zwölf Jahre hat sie in Niedersachsen und in München gearbeitet. Im vergangenen Jahr hat sie bei der Elbe-Port Wittenberger GmbH angefangen. „Damals gab es in der Region einfach nichts Passendes für mich“, berichtet die 38-Jährige. Der Job im Hafen macht ihr Spaß. „Das meiste machen wir über Container. Die bekommen wir per Bahn aus Hamburg und verteilen sie von hier zu unseren Kunden, in Kyritz etwa oder in Wittenberge selbst“, erzählt sie. Wenn die Kathane – so heißt der kleine Fluss, an dem der Elbhafen eigentlich liegt – mal genug Wasser führt, kommen auch Güterschiffe mit Schüttgut. „Ton zum Beispiel oder Schlacke. Das läuft gut.“ Elbe-Port zufolge legen mittlerweile im Schnitt 50 bis 60 Schiffe in Wittenberge an. 2010 seien es noch etwa 15 gewesen. Insgesamt werden pro Jahr Güter mit einem Gesamtgewicht von rund 160 000 Tonnen umgeschlagen, heißt es.

Von seinem Arbeitsplatz aus hat Helmfried Schulz je nachdem in welchem Stockwerk er sich befindet, einen guten Blick auf den Hafen. Im Dienst der Stadt führt er als Ein-Euro-Jobber Besucher auf eines der Wahrzeichen Wittenberges: den 1928 erbauten 50 Meter hohen Singer-Uhrenturm auf dem ehemaligen Werksgelände. „Der Turm wurde in der Rekordzeit von 14 Monaten erbaut. Ist eigentlich kein Uhrenturm, sondern ein Wasserturm mit einer Uhr dran“, erzählt er, während er seine Zigarette ausdrückt und die Tür zum Turm aufschließt. Schulz ist echter Wittenberger, 1955 geboren, seine Eltern haben noch im Veritas-Werk gearbeitet.

Besonders geschäftig geht es auf dem Gelände nicht mehr zu. Der Pförtner hebt nur müde den Kopf, wenn jemand die Schranke passiert. Rund 50 kleinere Firmen haben heute noch ihren Sitz, wo früher in Spitzenzeiten bis zu 430 000 Nähmaschinen produziert wurden. Dass Wittenberge nur ansatzweise an die alten glorreichen Zeiten anknüpfen könnte, sieht Schulz nicht. „Wo hier der Aufwind weht? Das möchte ich auch gerne mal wissen. Die paar Jobs. Was mich ärgert, ist, dass die meist sowieso ihre Leute mitbringen“, glaubt er.

Wittenberges Bürgermeister Oliver Hermann (parteilos) ist dagegen fest davon überzeugt, dass es aufwärts geht. „Aber Schritt für Schritt. Man muss auf auf dem Teppich bleiben. Wittenberge ist kein Boomtown“, räumt der 48-Jährige ein. Man dürfe schließlich nicht vergessen, wie die Situation 1991 gewesen sei. Optimistisch stimmt ihn unter anderem, dass heute längst nicht mehr so viele Wittenberger das Weite suchen wie damals. „Das Saldo ist weitgehend ausgewogen. Es kommen sogar Leute aus Hamburg und Berlin zu uns.“

Wenn Hermann den frischen Wind spüren möchte, besucht er entweder die Austrotherm-Baustelle, das Wittenberger Eisenbahninstandhaltungswerk der Deutschen Bahn oder den Hafen. „Die Logistik ist natürlich ein großes Thema. Die Lage ist nicht schlecht. Das hat Singer schon gewusst“, sagt der Rathauschef. Den Elbhafen nur nach der Zahl der Schiffe zu bewerten findet Hermann zu kurz gegriffen. „Natürlich sind das keine rheinischen Verhältnisse. Man darf aber nicht nur aufs Schiff starren. Es ist eher ein kleines Güterverkehrszentrum.“

Für den optimalen Anschluss fehlt nur noch eine Autobahn. „Die A 14 muss kommen. Das ist ganz entscheidend“, findet der Bürgermeister. Vor allem bei Natur- und Umweltschützern ist die Weiterbau des Abschnitts zwischen Schwerin und Magdeburg umstritten. „Mich ärgert, dass vor allem von diesen Kräften häufig von Demokratie gesprochen wird, der Mehrheitswunsch aber nicht anerkannt wird“, ärgert sich Hermann. In einer Umfrage der Lokalzeitung hätten sich immerhin 80 Prozent für die A14 ausgesprochen.

Auch Babette Schnicke hält die Autobahn für alternativlos. „Wir liegen genau zwischen Hamburg und Berlin, brauchen aber eine dreiviertel Stunde, bis wir überhaupt auf der Autobahn sind“, sagt die Hafen-Koordinatorin. In ihre Heimat ist Schnicke vor sieben Jahren zurückgekehrt. Bei der Frage, ob sie den Aufwind spürt, zuckt sie zuerst nur mit den Schultern. „Ich habe eigentlich nicht den Eindruck, dass sich viel verändert hat.“ Nach kurzer Pause aber räumt sie ein: „Es tut sich doch schon ordentlich etwas. Hier auf dem Gelände wird auch überall gebaut. Es geht eben langsam, aber stetig.“

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