Oranienburg: Ausgebombt
Bei der Sprengung eines Blindgängers aus dem Zweiten Weltkrieg verlor Paul Dietrich aus Oranienburg sein Haus. Anspruch auf Schadensersatz hat er nicht
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Oranienburg - Rund 20 Jahre hat Paul Dietrich in dem kleinen Wochenendhäuschen in Lehnitz gewohnt, sich die alte Laube im idyllischen Oranienburger Ortsteil peu à peu für rund 40 000 Euro ausgebaut. „Bin nie in Urlaub gefahren, hab mein ganzes Erspartes reingesteckt. Wärmedämmung, neue Schallschutzfenster“, zählt der 64-Jährige auf. Was vor gut einer Woche passiert ist, kann er immer noch nicht fassen. Eine gewaltige Detonation hat sein kleines Häuschen zerstört. „Ich bin bis zur letzten Minute davon ausgegangen, dass die Bombe einfach rausgenommen wird“, erinnert sich Paule, wie ihn in der Straße alle nennen. Doch Paule hat Pech gehabt – und zwar doppelt. Weil sich der Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg doch nicht entschärfen ließ, musste die US-amerikanische 500-Kilogramm-Bombe kurzerhand gesprengt werden. Nicht nur ging Dietrichs Haus mit in die Luft, er hat zudem nicht mal Anspruch auf Schadensersatz.
Weil Dietrich keine offiziellen Leistungen zu erwarten hat, wird derzeit in Oranienburg für ihn gesammelt – und für ähnlich gelagerte Fälle in der Zukunft. „Besteht keine entsprechende Versicherung, so bleiben die Eigentümer in solchen Fällen erfahrungsgemäß auf den Kosten sitzen, falls nicht, wie es in der Vergangenheit oft der Fall war, das Land Brandenburg finanzielle Hilfe leistet“, bestätigt Stadtsprecher Björn Lüttmann. Erst Anfang des Jahres ging in Oranienburg ebenfalls bei einer Sprengung in einem Gewerbegebiet eine Scheibe zu Bruch, in einer Fassade zeigten sich Risse. Entschädigung erhielten die Betroffenen nicht. Dietrich zumindest will die Stadt entgegenkommen. „Oranienburg hat mir ein Angebot gemacht. Die Stadt macht den Krater zu, reißt alles ab und ich muss für die erste Hälfte 2014 keine Pacht und keine Zweitwohnsitzsteuer zahlen. Hilft mir schon ’ne Menge“, erzählt er. Ansonsten aber fühlt sich Dietrich von der öffentlichen Hand im Stich gelassen, vor allem vom Bund. Gerade einmal seinen neuen kleinen Fernseher, sein Handy, eine Hose und einige Unterlagen habe er noch retten können. „Wie kann das sein, dass ein so reiches Land jemanden so allein lässt?“, fragt er. In Berlin aber fühlt man sich ausschließlich zuständig für Grundstücke im Bundeseigentum oder alliierter Streitkräfte sowie für alte Blindgänger deutscher Herstellung, sogenannte „reichseigene Munition“, wie das Bundesinnenministerium auf Anfrage mitteilt. Alles andere sei Ländersache. Bei Schadenfällen gelten die allgemeinen Regelungen über die Amtshaftung, heißt es. Die greift aber nur, wenn man dem landeseigenen Kampfmittelbeseitungsdienst oder welcher Behörde auch immer fahrlässiges Handeln vorwerfen könnte.
Vor allem aus brandenburgischer Sicht ist die Zuständigkeit der Länder denkbar ungünstig. Wie kaum eine andere Region Deutschlands ist Brandenburg in den letzten Kriegstagen zum Schlachtfeld geworden. Zudem befanden sich wie im Fall Oranienburg in Brandenburg wichtige Rüstungsbetriebe. Neben Tausenden Bomben mit konventionellen Aufschlagzündern gingen insgesamt rund 10 500 Großbomben schwerpunktmäßig auf die Auer-Werke, wo die Nazis heimlich Uran anreichern ließen, den Bahnhof, die Heinkel-Flugzeugwerke in Annahof, diverse SS-Depots und den Flughafen nieder. Experten gehen davon aus, dass nach wie vor wenigstens 300 Blindgänger im Stadtgebiet verborgen sind. Die Bombe, die Dietrichs Haus zerfetzte, war die 175., die seit der Wende unschädlich gemacht wurde. In Potsdam, ein weiterer Schwerpunkt, sind es seit der Wende bislang 146. Allein in der sogenannten „Nacht von Potsdam“, vom 14. auf den 15. April 1945, gingen 1700 Tonnen Bomben nieder.
Angesichts solcher Altlasten fühlt man sich in Brandenburg mit der Suche, Bergung und Enstorgung alter Weltkriegsmunition überfordert. „Wir werden vom Bund nicht ausreichend unterstützt“, bestätigt Ingo Decker, Sprecher im Landesinnenministerium. Der Fall Dietrich werde derzeit noch geprüft, Ergebisse lägen aber noch nicht vor.
Den Angaben zufolge hat Brandenburg seit 1991 mehr als 320 Millionen Euro für die Kampfmittelberäumung ausgegeben, davon etwa 116 Millionen Euro vom Bund für die Entsorgung reichseigener Munition rückerstattet bekommen. Erst 2012 hatten Brandenburg und Niedersachsen eine Bundesratsinitiative gestartet, die für eine andere Lastenverteilung sorgen sollte. Dabei hatte sich die Länderkammer dafür ausgesprochen, dass sich der Bund künftig auch an der Beseitigung ausländischer Munition beteiligen soll. Doch der Bundestag hatte die Eingabe einfach nicht behandelt und sie bis zur jüngsten Bundestagswahl vergammeln lassen. Damit ist der Gesetzantrag hinfällig geworden, und eine Lösung weiterhin nicht in Sicht.
Oranienburgs Bürgermeister Hans-Joachim Laesicke (SPD) findet die Unterscheidung zwischen reichseigener und ausländischer Munition lebensfremd. „Deutsche Bomben sind in der Regel nicht auf deutsche Städte gefallen und dem, der auf einer Bombe sitzt, ist es doch egal, wo sie herkommt“, sagt der Rathauschef. „Und was ist mit deutschen Bomben, die später mit einem russischen Zünder ausgestattet worden sind?“ Für Fälle wie dem von Dietrich fordert Laesicke unkomplizierte Lösungen.
An wenigstens zwei Stellen nahe Dietrichs Häuschen werden weitere Blindgänger vermutet. Zudem gehen Experten davon aus, dass es immer häufiger zu Sprengungen kommen wird, weil der Zustand der Bomben wegen der langen Zeit unter der Erde immer schlechter wird. Paule will trotzdem wieder aufbauen: „Ich bleibe da, lass mich notfalls anketten.“
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