Brandenburg: Berlin war verzaubert
Auf den Tag genau vor 10 Jahren verhüllte Christo den Reichstag
Stand:
Auf den Tag genau vor 10 Jahren verhüllte Christo den Reichstag Berlin - Tempelschändung oder Zauberwerk, Spektakel oder Kunstereignis – die Wogen der Erregung gingen hoch, als Christo und Jeanne-Claude am 23. Juni 1995 den Reichstag in Berlin verhüllten. Inzwischen ist sich die Fachwelt einig: Die Reichstagsverhüllung vor zehn Jahren, für die das Künstlerpaar fast ein Vierteljahrhundert bis zum Bundestagsvotum vom Februar 1994 gekämpft hatte, war eines der wohl bedeutendsten Kunstereignisse in Deutschland. „Ein dramatisches Erlebnis von großer visueller Schönheit“, schwärmten Bewunderer. Und selbst ein Berliner Richter, der wegen störender Zeltbauten am Reichstag zu entscheiden hatte, konstatierte: „Es bedarf keiner weiteren Begründung, dass die international anerkannten Künstler Christo und Jeanne-Claude mit dem Kunstwerk "Verhüllter Reichstag" Berlin zum Schauplatz eines Weltkunstwerkes machen.“ Das sah auch der damalige Bundespräsident Roman Herzog so, der sich mit seiner Frau Christiane frühmorgens um 6.30 Uhr unter die Besucher mischte, um den Anblick des glänzenden Kunstwerkes im Licht der aufgehenden Sonne zu bestaunen („Das ist unglaublich!“). Andere bewunderten das Spektakel vom Hubschrauber oder dem Flugzeug aus. Es lockte schließlich fünf Millionen Besucher bis zum 6. Juli auf das Gelände zwischen Spree und Brandenburger Tor – nur der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), hartnäckiger Gegner des Projektes, weigerte sich, den „eingepackten“ Reichstag auch nur anzuschauen. Er war dabei keineswegs alleine, das Pro und Contra ging quer durch die Parteien. „So etwas tut man nicht!“, meinte der SPD-Bundestagsabgeordnete Eike Ebert, und Burkhard Hirsch von der FDP erinnerte an den Antrag zum Neubau des Reichstags 1871, in dem es hieß, das Parlamentshaus solle der „Schlussstein der deutschen Einigung“ sein. „Und nun kommt Herr Christo und verpackt alles!“. Der SPD-Abgeordnete Peter Conradi sah im verhüllten und in den unterschiedlichsten Farben glänzenden Reichstag gar „ein Zeichen für unseren Neuanfang in Berlin“. Im Ausland blickte man mit ungläubigem Staunen auf diese für viele ungewohnt gelöste Festtagsstimmung in Berlin. Die „New York Times“ sprach von einem „politischen Happening“, das viele Ausländer den Deutschen nicht mehr zugetraut hätten. In einer am Reichstag verteilten Sondernummer der Zeitung „Das Parlament“ wollte man im schillernden Kunstwerk symbolträchtig „die Konturen der künftigen Berliner Republik“ erkennen. Andere feierten das „Fest der Selbstfindung der Deutschen“ auf dem Rasen am Platz der Republik. Die Bewunderer Christos forderten sogar eine Verlängerung des Spektakels „Wrapped Reichstag“, in völliger Verkennung allerdings des Kunstverständnisses und Arbeistprinzips der beiden Künstler – „Verweile nicht, du bis zu schön“ in Abwandlung des Goethe-Zitats setzen sie stets auf die enge zeitliche Begrenzung und Unwiederholbarkeit ihrer Kunstwerke, denn nicht an die Tage erinnert man sich, sondern an den einzigartigen Augenblick. 100 000 Quadratmeter schwer entflammbares Polypropylengewebe bedeckten in 70 silbrigglänzenden Stoffbahnen den Wallot-Bau aus der Kaiserzeit mit der Giebelinschrift „Dem deutschen Volke“. Sie wurden von 15 Kilometer langen blauen Seilen gehalten, die von 100 Kletterern befestigt werden mussten. Das Ergebnis verblüffte selbst Skeptiker. Morgendämmerung und Abendsonne oder nächtliche Beleuchtungen, selbst dunkle Gewitterwolken und auch Regenschwaden verwandelten das futuristisch anmutende „Reichstagspaket“ in immer neue „Wunderbilder“ wie auf einer Hollywood-Leinwand. Das genossen Tausende Besucher rund um die Uhr, viele junge Menschen campierten in Schlafsäcken die Nacht durch am Lagerfeuer, bei Gitarrenmusik oder von Straßenmusikanten und Künstlern unterhalten mit Trommeln, Rock''n''Roll oder lateinamerikanische Folklore. Die Weinflaschen kreisten und zwischendurch roch es auch schon mal nach einem Joint, wenn Songs wie „San Francisco“ oder „Smoke On The Water“ ertönten. Die inzwischen beide 70-jährigen „Verpackungskünstler“ erregten zuletzt mit dem goldenen Stoffmeer im New Yorker Central Park Aufsehen. Sie planen längst ihr nächstes Projekt – „Over The River“ soll auf über 10 Kilometer Länge den Fluss Arkansas überspannen.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: