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Brandenburg: Bewusst verrechnet?

Nach dem Zensus bezweifeln Statistiker, dass Berlin nichts vom statistischen Bevölkerungsschwund wissen konnte

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Berlin - Nach dem für Berlin folgenschweren Ergebnis bei der Zensuserfassung erheben Experten für Statistik und Demografie nach Recherchen dieser Zeitung den Vorwurf, der Senat hätte die viel geringeren Bevölkerungszahlen viel früher erahnen und erfassen können. „Der Senat ist in finanzpolitischem Interesse sehr bewusst in eine Wachstumseuphorie verfallen“, sagte Grünen-Fraktionschefin Antje Kapek. „Die Politik hat die Meldeämter nicht angewiesen, die Statistik von Karteileichen zu bereinigen, die bekanntermaßen nach Wegzügen von Migranten ins Ausland entstehen.“ Experten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hätten in den vergangenen Jahren den Senat immer wieder gewarnt. Stattdessen habe das Land bewusst ein „totales Haushaltsrisiko“ auf sich genommen. Nun muss Berlin unrechtmäßig bezogene Länderfinanzausgleich-Gelder zurückzahlen.

Reiner Klingholz, Direktor der unabhängigen Stiftung „Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung“, kritisierte, dass „es bei Verdachtsfällen in den Melderegistern kein massives Interesse gab, diese zu bereinigen“. Laut dem für den Zensus zuständigen Leiter beim Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, Karsten Wenzel, gab es 2001 einen Testlauf für den Zensus. Damals habe der Anteil der Menschen, die statistisch in der Stadt wohnten, aber längst ins Ausland fortgezogen waren, bei 5,7 Prozent gelegen. Jetzt liege die Zahl der Karteileichen bei 5,2 Prozent. In Berlin und Brandenburg seien extreme Unterschiede zwischen den Fortschreibungen der Bevölkerungszahlen in den Verwaltungen und den tatsächlich hier lebenden Menschen aufgefallen, nachdem jedem Bürger bundesweit eine Steuernummer zugeschickt worden sei und unzählige Briefe nicht zugestellt werden konnten. 2008 hatte es bereits eine Bereinigung des Melderegisters gegeben. Die Kritiker verweisen aufs Saarland, das ähnliche Differenzen wie Berlin gehabt habe, aber seine Zahlen bereinigte, weil Meldestellen Verdachtsfällen nachgingen.

Laut Wenzel sind 60 Prozent der statistisch Verschwundenen ins Ausland gezogene Wahl-Berliner ausländischer Staatsangehörigkeit, 30 Prozent ins Ausland gezogene Deutsche mit Migrationshintergrund, 10 Prozent im Inland umgezogene deutsche Staatsbürger – alle haben sich wohl nicht polizeilich abgemeldet.

Die Stadtentwicklungsverwaltung wies Vorwürfe, mit Zahlen wissentlich falsch gearbeitet zu haben, von sich. Man habe immer betont, mit 50 000 bis 100 000 weniger Menschen gerechnet zu haben. An der Zukunftsprognose 2030 ändere sich nichts. Annette Kögel

Annette Kögel

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