zum Hauptinhalt

Brandenburg: Bürgermeister auf Hartz IV

Ralf Theuer leitet die Geschicke der Gemeinde Brieskow-Finkenheerd

Von Sandra Dassler

Stand:

Brieskow-Finkenheerd - „Auch Sie, Herr Bürgermeister?“ Wenn Ralf Theuer diese Frage zu hören bekommt, dann sitzt er im Warteraum des Arbeitsamts. Kein Mensch sagt hier „Jobagentur“. Schon gar nicht die Einwohner von Brieskow-Finkenheerd, deren Bürgermeister Ralf Theuer seit 1998 ist. Ehrenamtlich. „Hauptamtlich“ ist er Arbeitslosengeld- II-Empfänger wie jeder fünfte arbeitsfähige Bürger seiner Gemeinde.

Ob er damit „Deutschlands erster Hartz-IV-Bürgermeister“ ist, wie eine Zeitung zu wissen behauptet, ist nicht festzustellen: „Informationen darüber, ob ehrenamtliche Bürgermeister Sozialleistungen beziehen, unterliegen dem Datenschutz“, sagt Uwe Zimmermann vom Deutschen Städte- und Gemeindebund.

Aber Ralf Theuer hat ohnehin keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Der 50-Jährige hat manchmal einen Arbeitstag wie ein Manager: Morgens studiert er in seinem kleinen Arbeitszimmer in der ehemaligen Schule die Post und nimmt Fragen und Beschwerden der Bürger entgegen. Wer nicht anruft, spricht ihn später an, wenn er durch die Gemeinde radelt: „Ich suche ein Grundstück“; oder „Bei meinem Nachbarn liegt seit vier Wochen der Sperrmüll vor der Tür“; oder „Herr Bürgermeister, die Straßenlampe ist schon wieder kaputt“. Der Herr Bürgermeister kümmert sich: Informiert die Amtsverwaltung, ruft beim Entsorgungsunternehmen an, schaut zwischendurch nach, wie weit die Bauarbeiten an der Turnhalle sind. Abends sitzt er oft in Versammlungen.

Seine Frau, die wie er von ALG II leben muss, beschwert sich oft, dass er so viel unterwegs ist. Die beiden erhalten je 311 Euro im Monat, dazu übernimmt der Staat die Heiz- und Wohnungskosten, den Strom nicht. Ralf Theuer trägt billige Turnschuhe, raucht polnische Zigaretten und leistet sich von den 800 Euro Aufwandsentschädigung, die er als ehrenamtlicher Bürgermeister im Monat erhält, ab und an eine dunkle Hose und ein neues Hemd. „Wir kommen klar“, sagt er: „Die drei Kinder sind aus dem Haus und alle paar Jahre ist sogar ein Urlaub drin.“

Theuer, der Maschinenbau studiert und ein Diplom hat, ist das Medien-Interesse an einem „armen Hartz-Bürgermeister“ nicht peinlich. Erfahrungen mit Journalisten hat er ohnehin schon gesammelt. Beim Oderhochwasser beispielsweise. Oder als die Sprengung der letzten Schornsteine des ehemaligen Kraftwerkes von Finkenheerd zum Gegenstand einer Wette bei Thomas Gottschalk wurde.

2005 dann richteten sich die Blicke der ganzen Republik auf Brieskow-Finkenheerd. Theuer erinnert sich genau an jenen Sommertag: „Beim ersten Anruf mit der Frage nach den vielen toten Babys habe ich noch an einen makabren Scherz geglaubt“, erzählt er: „Beim dritten Anruf ist mir schlecht geworden.“ Sabine H. aus Frankfurt (Oder) hatte neun ihrer Kinder nach der Geburt getötet und in Blumentöpfen vergraben. Als ihre Wohnung zwangsgeräumt wurde, brachte sie die Töpfe auf das Grundstück ihrer Eltern nach Brieskow-Finkenheerd. „Nun ist der Name unseres Dorfes für immer damit verbunden“, sagt Theuer: „Das ist ungerecht.“

Für noch ungerechter aber hält er, dass so viele Menschen, die arbeiten möchten, keine Stelle bekommen: „Die meisten nehmen die Ein-Euro-Jobs ja nur an, um wieder mal unter Menschen zu kommen“, sagt er. „Arbeitslosigkeit macht nicht nur arm, sondern auch einsam.“ Deshalb sei es für ihn auch ein Glück, dass ihn die Einwohner bei der letzten Wahl im Amt bestätigt haben. Ralf Theuer ist stolz auf die Straßen, die in seiner Amtszeit gebaut wurden, auf den Einkaufsmarkt, die Turnhalle und die beiden Wohngebiete. Dass die Schule geschlossen wurde, hat er nicht verhindern, aber um zwei Jahre hinauszögern können.

Sein Traum ist, dass die Einwohnerzahl von jetzt rund 2600 auf 3000 ansteigt. Außerdem wünscht er sich, dass die geplante Bundesstraße „Oder-Lausitz-Trasse“ nicht mitten durch den Ort führt. Und dass irgendwann kein Finkenheerder mehr im Arbeitsamt sitzen muss.

Sandra Dassler

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })