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Brandenburg: „Das alte Preußenland wird zu hektisch vermarktet“

Der Kulturwissenschaftler Kenneth Anders über die demografische Entwicklung im Oderbruch, den Wegzug aus ländlichen Gebieten und die Gefahren steigender Bodenpreise

Stand:

Herr Anders, was ist Ihr Eindruck: Gibt es immer weniger Menschen im Oderbruch?

Ich habe nicht den Eindruck, dass die Zahl der Bewohner drastisch abnimmt. Es gibt den altersbedingten Bevölkerungsschwund, es gibt aber auch Zuzug, meist Leute, die älter als 65 sind. Und seit zwei, drei Jahren wagen sich nach einer sehr langen Durststrecke auch junge Leute zwischen 20 und 30 wieder her.

Gibt es Dörfer, in denen mehr Ruinen stehen als bewohnte Häuser?

Dörfer nicht – aber Ecken.

Sie haben in Leipzig und Berlin studiert. Was hat Sie dazu gebracht, hier ein Haus zu kaufen und Kinder großzuziehen?

Der Reiz ländlicher Räume hat für mich immer darin bestanden, dass man sich weniger stark entscheiden muss – oder kann. Das Leben ist sehr reich, weil es sich nicht so stark ausdifferenziert. Man ist unterwegs in kommunalpolitischer Hinsicht, in kultureller Hinsicht, man muss sein Überleben durch Arbeit sichern, man hat mit seinen Nachbarn zu tun. Das prägt ländliche Räume. Die Spezialisierung ist nicht so stark, das Leben ist auf dem Land bunter.

Was kann junge Menschen dazu bewegen, hierzubleiben?

In unserer Gesellschaft ist der Arbeitsplatz Grundlage einer erfolgreichen Lebensgestaltung. Je reicher die Bildung, die wir erfahren haben, desto wichtiger wird das. Angesichts der starken Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in den Städten ist es kurios, dass die ländlichen Räume in dieser Hinsicht auf die Anklagebank geraten sind. Denn sie bieten sehr viele Möglichkeiten für eine reiche Arbeitsbiografie. Die Menschen – ob Autoschlosser, Ärztinnen, Baggerfahrer, Künstler – bewirtschaften ganz verschiedene lokale Ressourcen. Sie sind angewiesen auf Märkte und andere Menschen. Es ist eine Herausforderung, an einem provinziellen Ort zu leben und mit ganz vielen Menschen dort und anderswo verbunden zu sein. Wir haben wenig Arbeitsplätze, aber einen großen Reichtum an erfolgreichen Arbeitsbiografien.

Was sind die großen Nachteile des Lebens auf dem Land?

Man muss mehr mit dem Auto fahren, als einem lieb ist. Eine normale Alltagsgestaltung kann man nicht mehr in einer Ortschaft realisieren. Wenn mir jemand das Autofahren vorwirft, werde ich ärgerlich. Welche Perspektive hat eine Landschaft wie das Oderbruch?

Mein Eindruck ist, dass es kaum entwicklungsoffenere Räume gibt als die ländlichen Regionen Brandenburgs. Sie haben sich konsolidiert. Ein Bewusstsein setzt sich durch, dass man ganz gut hier leben kann. Die, die schon immer hier waren, und die Zugezogen haben sich aufeinander eingelassen.

Was ist – wenn es die demografische Entwicklung nicht ist – die größte Gefährdung für solche Räume?

Es sind zwei große Gefährdungen. Ich befürchte, dass die drastischen Umbrüche im Flächeneigentum zu schnell gehen und es deshalb zu starke Eigentumskonzentrationen gibt. Diese wiederum verhindern, dass sich Menschen hier neu niederlassen und etwa über Direktvermarktung auch Beziehungen nach Berlin aufbauen können. Der Staat, indem er das alte Preußenland zu hektisch vermarktet, gibt das letzte Steuerungsinstrument preis, um in diesen Räumen mitzuentscheiden. Man kann nur jedem, der hier Land besitzt, empfehlen, es zu behalten – oder genau zu gucken, wem er es verkauft.

Der Boden steigt im Wert.

Er steigt rapide im Wert. Es werden Pachtpreise gezahlt, bei denen man sich nicht mehr erklären kann, wie sie erwirtschaftet werden sollen. Mit der Eigentumskonzentration sinkt die Chance dieser Landschaften auf eine vielfältige Entwicklung.

Und die andere Gefahr?

Der Umbruch im Ehrenamt. Das ist eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung. Viele tun etwas freiwillig, aber nur wenige ziehen sich freiwillig dauerhafte Verantwortung auf den Tisch. Viele Institutionen – Heimatvereine, Kirchengemeinden, Chöre, freiwillige Feuerwehren – sind für das ländliche Leben absolut bedeutsam. Die Schwierigkeit in der nächsten Generation wird darin bestehen, Leute zu finden, die in diesen Körperschaften die Spannung halten.

Was bedeutet die Tendenz zur Verstädterung für das Land?

Verstädterung bedeutet, dass die Menschen immer mehr davon ausgehen, dass ein Raum ihnen Angebote vorhalten muss, Bildungsangebote, Konsumangebote, Unterhaltungsangebote, Arbeitsangebote. Mit dieser Erwartungshaltung gehen Menschen zunehmend auch auf ländliche Räume, auf Ortschaften zu: Was bekomme ich hier geboten? Für Dörfer und ländliche Räume muss – bei allem Respekt für die Bedürfnisse der Menschen – eine andere Logik gelten: dass ich mir den Raum aneignen kann. Mir wird nicht etwas angeboten – ich kann hier bestimmte Dinge tun.

Sagen Sie ein Beispiel?

Wir leben hier am Hang. Wenn es stark regnet, ist die Straße mit Sand zugeschwemmt. In der Angebotslogik heißt es: Ich zahle Gebühren dafür, dass das in Ordnung gebracht wird. Diese Erwartungshaltung hat ein moderner Stadtbürger, und die hat er zu Recht. Auf dem Land ist es nicht schlecht, wenn die Nachbarn sich kurz zusammenraufen und den Sand im Nu wegschaffen – ein kleiner Akt der Daseinsvorsorge, man hat etwas selbst gelöst.

Kennen Sie viele, die die demografische Entwicklung beklagen? Oder ist die hier auf dem Land kein Thema?

Manches nehmen die Leute klaglos hin – auch wenn ich denke, dass man den Staat doch beharrlicher an seine Pflichten erinnern müsste, diese Räume zu unterhalten: Schule, Verkehr, Infrastruktur. Es ist weniger ein Klagen als eine Ohnmachtserfahrung. Wenn etwa Straßen heruntergestuft werden, damit nicht das Land, sondern die Gemeinde sie unterhalten muss. Die dafür aber finanziell nicht ausgestattet ist.

Ist dieses Ohnmachtsgefühl verbreitet?

Wir werden weniger. Wir werden älter. Ab und zu kommt mal ein Politiker vorbei und klopft uns auf die Schulter. Aber dass jemand die politische Kraft entwickelt, die staatlichen Aufgaben im ländlichen Raum systematisch neu zu definieren, das ist leider nicht in Sicht.

Die Fragen stellte Werner von Bebber

Kenneth Anders, Jahrgang 1969, ist Kulturhistoriker. Er gehörte zu den Gründern des „Büros für Landschaftskommunikation“ und organisiert das Eberswalder Filmfest „Provinziale“ mit.

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