Brandenburg: Das Schweigen und die Pflicht
Michael Tsokos und Saskia Etzold machen sich in ihrem Buch gegen den Missbrauch von Kindern stark. Sie beschuldigen dabei auch die behandelnden Ärzte – die wehren sich nun mit einer Anzeige
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Berlin - Das Schweigen der Ärzte – so lautet ein Kapitel im aufsehenerregenden Buch von Michael Tsokos und Saskia Etzold „Deutschland misshandelt seine Kinder“. Nun reagieren die des Wegsehens beschuldigten Kinderärzte – mit einer Anzeige des Berufsverbandes der Kinderärzte bei der Ärztekammer Berlin. Der Vorwurf: Die beiden Rechtsmediziner sollen gegen die Berufsordnung der Landesärztekammer verstoßen haben, weil sie Kinderärzten vorwerfen, sie würden, so die Beschwerde, „aus wirtschaftlichen Gründen offensichtliche Fälle von Kindesmisshandlung entgegen ihrer Pflicht nicht den zuständigen Behörden melden“. Dies sei ein „ehrabschneidender öffentlicher Vorwurf gegenüber Kolleginnen und Kollegen“, heißt es in der Anzeige. Der Präsident des Berufsverbandes der Kinderärzte, Wolfram Hartmann, fordert die Landesärztekammer deshalb im Namen der Kinderärzte auf, ein berufsgerichtliches Verfahren gegen Tsokos und Etzold einzuleiten. Die Ärztekammer hat aber die Zuständigkeit hierfür inzwischen abgelehnt, was Hartmann als „völlig unverständlich“ bezeichnet.
Am Ende eines Verfahrens für Tsokos und Etzold könnte der Ausschluss aus der Ärztekammer stehen, für Etzold wäre damit der Verlust der Rente verbunden. Der Berufsverband berät nun erneut über das weitere Vorgehen.
In ihrem umstrittenen Buch beschreiben Tsokos und Etzold anhand von Fällen schonungslos Missstände im Kinderschutz. Die Diagnose „Kindesmisshandlung“ findet sich in den Patientenakten der Kinderärzte äußerst selten, stellen die beiden Mediziner fest. Sie hätten bei ihren Fällen häufig erlebt, dass die Ärzte die Erklärungen der Eltern kaum anzweifeln, auch wenn Verletzungen nicht so zustande gekommen sein können, wie es die Eltern schildern. Ein Kleinkind kann sich beim Fallen vom Sofa eine Beule zuziehen, aber keinen Schädelbruch. Bisswunden können vom Geschwisterkind stammen, aber nicht mit dem Gebissabdruck eines Erwachsenen. Die Kinder würden oft nur verarztet und gelangten dann wieder in die Hände ihrer Peiniger.
Die Hauptursache für „das Schweigen der Ärzte“ liegt nach Ansicht der Autoren im Gebot der ärztlichen Schweigepflicht. Ärzte glaubten demnach in der Regel, dieses Gebot würde ihnen untersagen, sich bei Verdacht auf Kindesmisshandlung an die Behörden zu wenden. „Wenn es um die Gesundheit des Kindes geht, weil die Eltern es misshandeln oder töten könnten, fühle ich mich als Arzt verpflichtet, das Kind zu schützen“, sagt dagegen Tsokos. Dabei sei nach Artikel 34 des Strafgesetzbuches die Gesundheit des Kindes in einem Notstandsfall „das höhere Rechtsgut“. Im Bundeskinderschutzgesetz, das 2012 in Kraft trat, finden sich keine eindeutigen Regelungen zum Kinderschutz. Denn es wird Ärzten lediglich „empfohlen“, vom Recht des rechtfertigenden Notstands Gebrauch zu machen. Eine Meldepflicht bei Verdacht auf Kindesmisshandlung gibt es nicht für sie.
„Nicht nur Kinderärzte in Brennpunktvierteln müssten wohl mangels Nachfrage ihre Praxen schließen, wenn sich herumsprechen würde, dass sie Misshandlungsfälle bei den Behörden melden“, lautet der Satz im Buch, der den Berufsverband zur berufsrechtlichen Beschwerde veranlasste. Und: „es dürften schlicht ökonomische Erwägungen sein, die viele Ärzte zum konsequenten Wegschauen bewegen.“ Ein harter Vorwurf. Aber die Autoren glauben, ihn belegen zu können. „Im Fachjargon hat sich dafür der Ausdruck Kinderarzt-Hopping gebildet. Wenn sich misshandelnde Eltern von einem Kinderarzt ertappt fühlen, wechseln sie schnell zum nächsten“, berichtet Etzold.
Andererseits: Selbst wenn es Kinderärzte gäbe, die auch aus wirtschaftlichen Gründen vorsichtig mit Verdachtsäußerungen sind, wäre das auf der jetzigen Gesetzesgrundlage verständlich. Wenn ein Kinderarzt für seine Verantwortung damit bestraft wird, dass seine verantwortungsloseren Kollegen die volleren Praxen haben, dann würde er mit seinem Handeln die Täter in die Arme derer treiben, die sie verschonen. Deshalb plädieren Tsokos und Etzold für eine gesetzliche Reaktionspflicht. Das würde bedeuten: Im Verdachtsfall müssen Kinderärzte die Kinder in eine Klinik überweisen, in der eine rechtsmedizinische Diagnostik stattfindet, und im besten Fall Fachkräfte des Kinderschutzes anwesend sind. Damit wären Kinderärzte entlastet, sich selbst mit dem Verdacht an die Eltern zu wenden. Diese Aufgabe könnten auch eigens dafür eingerichtete Kinderschutzambulanzen übernehmen. Von dort könnten die Jugendämter informiert werden, die über ein Familiengericht die Inobhutnahme eines Kindes veranlassen können. Denn Eltern dürfen, solange sie das Sorgerecht haben, bestimmte Untersuchungen wie etwa die Blutabnahme bei ihrem Kind verhindern.
Barbara Schönherr
Barbara Schönherr
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