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Brandenburg: Der Kampf nach dem Schuss

Eine Frau wurde von einem Jäger angeschossen – sie sitzt im Rollstuhl um kämpft um Schmerzensgeld

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Eine Frau wurde von einem Jäger angeschossen – sie sitzt im Rollstuhl um kämpft um Schmerzensgeld Kyritz – Es war ein Jagdunfall wie er nicht passieren darf: Der Waidmann Adolf L. hört ein Rascheln im Maisfeld. Von seinem transportablen Hochstand aus sieht er, wie sich die über zwei Meter hohen Mais-Pflanzen bewegen. Der 60-jährige zielt, obwohl er nicht genau weiß worauf, und drückt ab. Das Teilmantelgeschoss mit Blei-Kern trifft sein Ziel. Was für den Jäger Sekunden später schreckliche Gewissheit wird: Im Mais war kein Wildschwein. Er hat einen Menschen getroffen. Mary B. wollte verbotener Weise Mais für ihre Tiere pflücken. Das war im August 2003. Der heute 61-jährige Adolf L. musste seinen Jagdschein abgeben. Das Amtsgericht Neuruppin setzte seine Haftstrafe zur Bewährung aus. Damit ist Adolf L. erst mal aus dem Schneider. Doch der Kampf der Mary B. geht weiter. Demnächst – zwei Jahre nach dem Schuss – entscheidet sich, ob der Fall vor dem Oberlandesgericht zur Verhandlung kommt. Die Versicherung des Jägers hat die Höhe des Schmerzensgeldes nicht anerkannt und Berufung gegen das Urteil in erster Instanz eingelegt. Mary B. will nicht mehr mit Journalisten sprechen. „Reporter der Bild gaben sich damals als Polizisten aus, um ein Porträt-Foto zu erschleichen“, sagt ihr Anwalt Rico Ratschke. „Maispflückerin abgeknallt, weil der Jäger sie für ´ne Wildsau hielt“, hieß damals die Schlagzeile. „Uns geht es um drei Punkte“, erklärt der Kyritzer Anwalt, der Mary B. vor Gericht vertritt: Zum einen um das Schmerzensgeld – eine fünfstellige Summe. Außerdem um eine Schmerzensgeld-Rente im dreistelligen Bereich. Genaue Zahlen möchte Ratschke aus Rücksicht auf seine Mandantin nicht nennen. Und zuletzt um die Verpflichtung der Versicherung, sämtliche Kosten, die durch den Jagdunfall entstanden sind und entstehen werden, zu erstatten. Mary B. sitzt heute die meiste Zeit im Rollstuhl oder muss im Bett liegen. Mit Hilfe von Krücken kommt sie manchmal auf die Beine. Sie wohnt bei ihrer Mutter. Die Patrone, die so konstruiert ist, dass sie sich nach dem Aufprall zerlegt, hat die Hüfte der heute 27-jährigen zertrümmert. Bereits mehrmals wurde die Frau, die aus einem kleinen Ort in der Nähe von Kyritz stammt, operiert. Ob sie jemals wieder richtig laufen kann ist fraglich. Die Ärzte wagen nicht, der jungen Frau Hoffnung zu machen. In der Brandenburger Jagdszene hinterlässt der Fall seine Spuren. „Wir haben in allen Gremien den bedauerlichen Vorfall ausführlich ausgewertet“, sagt Bernd Möller, Geschäftsführer des Landesjagdverbandes. Mitteilungsblätter und Aufklärungsvideos machen die Runde. In ihnen wird die oberste heilige Jagd-Regel nochmals manifestiert: „Was Du nicht kannst erkennen, das schieße nicht.“ Trotz aller wohlwollenden Bestimmungen kommt es etwa einmal pro Jahr zu einem Jagdunfall, bilanziert Möller. Meist seien es die Jäger untereinander, die sich aus Versehen verletzen. Während der Dämmerung seien selbst Menschen, die auf freiem Feld nach Kartoffeln graben, von Schwarzwild  kaum zu unterscheiden, erklärt er. An einen so schweren Unfall wie in Kyritz kann sich der Geschäftsführer des Landesverbandes allerdings nicht erinnern. Verliert die Versicherung den Fall vor Gericht, würden sich auch die Mitglieds-Beiträge der Jäger erhöhen.    Die Gothaer Versicherung, die Gegenseite im Prozess, hält sich mit einer konkreten Stellungnahme zurück. „Da es sich um ein schwebendes Verfahren handelt, können wir keine detaillierten Auskünfte geben“, bittet Sabine Exinger, Pressesprecherin des Unternehmens um Verständnis. „Direkt nach dem Unfall haben wir die Haftung akzeptiert und eine fünfstellige Summe überwiesen“, sagt sie. Offen sei noch, ob die Geschädigte eine Mitschuld tragen muss, weil sie Mais stehlen wollte. Dieses Klein-Delikt steht für Rico Ratschke nicht im Verhältnis zu der Schwere des Unfalls. „Für die Versicherung geht es dabei natürlich um viel Geld“, sagt der Anwalt, der für seine Mandantin um eine 100-prozentige Haftung kämpft. Die Gothaer Versicherung mit Hauptsitz in Köln will seinen Worten zufolge nur 70 Prozent tragen. Möglicherweise lehne das Oberlandesgericht in Brandenburg/Havel die Berufung wegen fehlender Aussicht auf Erfolg ab. Das wäre für die Versicherung schmerzlich – mit den lebenslangen Schmerzen der Mary B. verglichen aber verkraftbar. Auf eine persönliche Entschuldigung des Ex-Jägers wartet Mary B. bis heute.

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