BRANDENBURGER STATISTIK: Die ältesten Fälle sind über 30 Jahre alt Die verlorenen Kinder
Mehr als 8000 Kinder und Jugendliche werden jährlich in Berlin und Brandenburg als vermisst gemeldet. Die meisten kommen schnell wieder. Heute wird denen gedacht, die verschwunden bleiben
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Gestern Vormittag war es wieder so weit: Über Lautsprecher suchte die Polizei in Berlin-Schöneberg nach einem fünfjährigen Jungen, der aus der Kita verschwunden war. Viele Menschen hielten inne, Eltern dachten an ihre Kinder, Großeltern an ihre Enkel. Dass das eigene Kind verschwindet, ist eine furchtbare Vorstellung.
In Berlin sind solche Schicksale immer häufiger. „Wir haben seit Jahren eine steigende Tendenz bei vermissten Kindern und Jugendlichen“, sagt Polizeisprecher Bernhard Schodrowski. Im Jahr 2005 waren 1054 Kinder und 2422 Jugendliche als vermisst gemeldet worden. 2006 waren es 1129 Kinder und 2747 Jugendliche.
Aber – so Schodrowski – die allermeisten Kinder und Jugendliche finden sich glücklicherweise innerhalb weniger Stunden oder Tage wieder an. „Sie sind einfach zu einem Bekannten, weil sie die Klassenarbeit verhauen haben. Oder sie haben sich verliebt und sind zu ihrem Freund gezogen – es gibt viele Gründe.“
Manchmal werden Fälle nur wegen mangelnder Kommunikation nicht gleich aufgeklärt. So verschwand vergangene Woche die 15-jährige Stefanie J. aus Treptow. Das leicht geistig behinderte Mädchen wollte zum Bäcker gehen – und kehrte nicht zurück. Die Polizei suchte vier Tage lang nach ihr, dann stellte sich heraus, dass Stefanie bei befreundeten Familien war, denen sie erzählt hatte, dass ihre Mutter davon wüsste. Diese stand derweil furchtbare Ängste aus. Dann war der Alptraum zum Glück vorbei.
Andere Berliner Mütter und Väter müssen mit der quälenden Ungewissheit leben. Das aktuellste Beispiel ist der Fall Georgine Krüger aus Moabit. Das 14-jährige Mädchen verschwand im September vergangenen Jahres und bislang blieben alle Anstrengungen, sie wiederzufinden, erfolglos. „Es gibt nichts Neues“, sagte Georgines Mutter, Vesna Krüger, gestern dieser Zeitung: „Ich bin am Ende meiner Kraft, zum Glück habe ich Menschen, die mir helfen.“
Zu den Helfern gehören auch die Mitarbeiter der Hamburger Elterninitiative „Vermisste Kinder“, die bundesweit agieren. Sie stellen Kontakte zu Behörden her, suchen im Internet weltweit nach den Verschollenen und organisieren alljährlich den „Tag der vermissten Kinder“. Insgesamt werden in Deutschland rund eineinhalbtausend Kinder und Jugendliche seit langem vermisst. In Berlin sind es 237, die seit 30 Jahren verschwunden sind.
In Hamburg werden morgen 100 Luftballons mit dem Bild eines vermissten Kindes aufsteigen. Der Fünfjährige aus der Schöneberger Kita ist nicht dabei. Kurz nach Beginn der gestrigen Suchaktion tauchte er wieder auf. Er hatte sich in der Kita versteckt und verstand gar nicht, warum ihn alle in die Arme nahmen.
Die Zahl der vermissten Kinder und Jugendlichen in Brandenburg sinkt leicht. Der Grund: Es gibt wegen der niedrigen Geburtenrate weniger Kinder. Im Jahr 2006 waren es erstmals weniger als 3000 Vermisstenanzeigen. Davon betrafen 285 Fälle Kinder (unter 14 Jahre) und 2447 Jugendliche (14 bis 18 Jahre).
Mehr als drei viertel aller Vermisstenmeldungen im Land betreffen Kinder und Jugendliche (Jahr 2006: 3732 von insgesamt 3497 Fällen; 2005: 3366 von 4446 Fällen).
Das hängt laut LKA auch damit zusammen, dass bei unter 18-Jährigen sofort eine Vermisstenanzeige aufgenommen wird.
Erwachsene werden nur als vermisst registriert, wenn es Hinweise auf eine Straftat, eine Gefährdung oder auf Hilf- oder Orientierungslosigkeit gibt,so LKA-Sprecher Toralf Reinhardt. Erwachsene, so Reinhardt, hätten das Recht, sich auch ohne Ankündigung von Familie und Schulden zu entfernen.
Die ältesten Vermisstenfälle in Brandenburg sind mehr als 30 Jahre alt.pet
Rat und Hilfe für die Eltern vermisster Kinder und aktuelle Vermisstenfälle finden sich auf vielen amtlichen und privaten Internetseiten. Unter anderem auf:
www.vermisste-kinder.de
Die Spur von Maike Thiel verliert sich in Henningsdorf. Das 17-jährige Mädchen aus Legebruch, im achten Monat schwanger, war an jenem Donnerstag um 10 Uhr vormittags noch zur Routineuntersuchung im Krankenhaus Henningsdorf. Das war vor fast 10 Jahren am 3. Juli 1997. Seit dem gilt das Mädchen, das heute eine Frau wäre, als vermisst. Ihre Eltern wissen bis heute nicht, ob ihre Tochter noch lebt, und ob sie jemals Großeltern geworden sind – das Baby sollte im August 1997 zur Welt kommen.
An Fälle wie diesen und an die Leiden der Eltern vermisster Kinder wird am heutigen „Tag der vermissten Kinder“ gedacht.
Der Fall „Maike Thiel“, der als Vermissten-Fall beim Polizeipräsidium Potsdam registriert ist, gehört zu den Ausnahmen im Land Brandenburg – zu den rein statistisch weniger als 0,01 Prozent der vermissten Kinder und Jugendlichen, die länger als ein Jahr verschwunden bleiben. In jedem Jahr registriert das Landeskriminalamt (LKA) Brandenburg mehr als 3000 Kinder und Jugendliche als vermisst. „Die meisten Fälle klären sich schnell – meist handelt es sich um Kinder und Jugendliche, die nur kurz von zuhause ausgerissen sind“, sagt Toralf Reinhardt, Sprecher des LKA-Brandenburg. Die meisten Kinder tauchen noch am selben Tag wieder auf. Bei den Jugendlichen sei die Quote der Dauerausreißer dagegen höher – jene 14- bis 18-Jährigen, die sich regelmäßig für mehrere Tage oder Wochen aus dem Staub machen. „Im Alter zwischen elf und 18 Jahren sind meist Probleme im Elternhaus, in der Schule oder mit dem Freund beziehungsweise der Freundin der Grund“, so LKA-Sprecher Reinhardt. 99,9 Prozent der vermissten Kinder kommen wieder.
Aber es gebe auch einen hohen Anteil von Dauerausreißern, die sich regelmäßig für mehrere Tage aus dem Staub machen. Besonders viele Vermisstenfälle werden laut LKA im Raum Fürstenwalde (Oder-Spree) gemeldet. Der Grund: Dort gibt es ein so genanntes Heim für alleinreisende Kinder – meist Kinder, die von ihren Eltern aus ärmeren Ländern allein nach Westeuropa geschickt werden, in der Hoffung, dass sie dort aufgenommen und betreut werden. Regelmäßig blieben die Kinder, die oft keinerlei Angaben zu ihrer Herkunft machen, für ein paar Tage, essen sich satt, schlafen sich aus und reißen wieder aus. Rein statistisch, so Reinhardt, blieben nur 0,01 Prozent der Vermissten im Alter zwischen 0 und 18 Jahren mehr als ein Jahr verschwunden. Und selbst danach tauchen die meisten wieder auf – lebend. Dass ein vermisstes Kind tot gefunden wird, sei die absolute Ausnahme, so Reinhardt weiter. Die Zahl der tot aufgefundenen Kinder und Jugendlichen variiere zwischen zwei und sechs Fällen jährlich. Dass diese Kinder Opfer eines Verbrechens geworden sind, sei die absolute Ausnahme.
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