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Kalte Morgenstimmung: Nebel üner der Oder.

© dpa

Brandenburg: Die Schwimmerin

Eine starke Frau und ein polnischer Zwangsarbeiter am Ende des Zweiten Weltkrieges in einem Ort an der Oder. Eine Erzählung – basierend auf einer wahren Geschichte – von Verlust, Gewinn und Teilung im Osten. Ein Vorabdruck aus „Das Fastenlesebuch – 7 Wochen Ohne“

Stand:

Wo das Gras am saftigsten unddas Hochwasser am schnellsten ist, lag ihr Hof. Gleich hinter dem Damm. Grete Palock hatte sich daran gewöhnt, die Wirtschaft alleine zu führen. Von ihrem Mann kam ab und an Feldpost. Aber Grete Palock freute sich nicht über die Karten. Seine Sätze waren kurz und knapp und glichen denen aus dem Volksempfänger: Unsere Kampferfolge. Wie es brennt. Partisanen abgeknallt. Meine Kameraden.

So einen Mann hatte sie nicht geheiratet, kurz vor dem Abmarsch. Das ist der Krieg, dachte sie. Als keine Karten mehr kamen, hatte sie sich bemüht, um ihren Mann zu trauern. Aber es fiel ihr schwer. Ihr Mann. Sie wusste ja nicht einmal, ob er tot war. Sie betete für ihn. Dass der Krieg nicht seine Seele zerstört. Nicht, dass er heimkommt.

Grete Palock hatte starke Arme bekommen von der Arbeit auf dem Feld und im Stall. Manche im Dorf nannten sie „Mannsweib“. Ihr war es egal. Sie redete wenig und hörte ebenso wenig zu. Ihr Hof lag abseits. Sie summte still die Lieder ihrer Kindheit, die gar nicht lange her war. Die wenige freie Zeit verbrachte sie am Fluss. Ein paar Schritte, schon war sie auf dem Deich. Wie friedlich hier alles war, mitten im Krieg. Wind. Sattes Grün, als hätten sich die Wiesen fett gefressen. Vögel, die in Schwärmen fliegen, ohne Marschbefehl. Ohne das ganze Zack-Zack-Still-Gestanden. Ohne Führer-Befiehl-Wir folgen-Dir.

Komisch, ein Fluss, der „Oder“ heißt, dachte sie oft. Oder was? Manchmal lag Nebel über dem Fluss, weiße, feuchte Ungewissheit, aus der die Kälte kriecht. Oder die von der Sonne vertrieben wird. Entweder. Oder.

Aus solch einem Nebel kamen die Russen. Nach sechs Tagen Beschuss. Nach sechs Jahren Krieg. Die Russen hatten Mühe, über die Oder zu kommen. Es gab wenige Brücken über die Oder. Oder sie waren zerstört.

Bevor die Russen kamen, hatten die meisten das Dorf verlassen. Grete Palock war nicht geflohen. Wer flieht, der hat etwas zu fürchten, dachte sie. Sie aber war furchtlos. Ich habe niemandem ein Leid getan. Der erste Russe, der aus dem Nebel auftauchte und auf ihren Hof kam, sah aus wie ein Chinese, fand sie. Ob der mich sieht, fragte sie sich. Mit solchen Augen? Was sieht er von mir? Sie griente breit und kniff die Augen zusammen. Der Russe machte ein ernstes Gesicht. Er trug ein Maschinengewehr und schmutzige Stiefel. Soldaten? Fragte er. Sie sagte: Nein.

In diesem Augenblick ging die Scheunentür auf: Da stand Vitali. Vitali war Grete Palock zugeteilt worden. Ein Pole. Vitali rief: Grete, gute Frau, Frau nicht böse. Sprach er polnisch oder russisch? Grete Palock wusste es nicht. Der Russe ging auf Vitali los. Er rief ein Wort, das wie ein Fluch klang, und schlug Vitali nieder. Er spuckte auf den Polen. Verräter, zischte er auf Russisch. Dann verzog sich der Soldat, der wie ein Chinese aussah.

Der Krieg war für Grete Palock damit vorbei. Ein Weltkrieg, den ihre Welt halbwegs überstanden hatte. Gut, das Scheunendach hatte etwas abbekommen. Und ihr Mann war weg. Aber ihr Fluss floss unverändert. Der Damm war heil geblieben. Heil? Dachte sie. Sagen wir lieber: Ganz.

Grete Palock hatte Vitali nie besonders beachtet. Sie wollte kein Geschwätz im Dorf. Sie gab Anweisungen, er befolgte sie. Er hatte gut gearbeitet, sie hatte ihm gutes Essen hingestellt. Er war nicht Luft für sie. Aber auch nicht viel mehr. Sie war doch verheiratet.

Als der Russe fort war, kümmerte sich Grete Palock um Vitali. Drei Rippen waren gebrochen und das Nasenbein. Er lag auf seiner Holzpritsche in seinem Verschlag im Stall. Sie beugte sich über ihn.

Sie verband seine Rippen. Aber was sollte sie mit der Nase machen? Sie bewegte sein Nasenbein. Er schrie. Sie musste lachen. Als der Schmerz nachließ, lachte auch Vitali. Er sagte: Wodka? Grete Palock ging in den Keller. Im hintersten Winkel des hintersten Regals stand noch eine Flasche Korn. Sie ging zu Vitali, trank einen Schluck, sagte: Frieden. Dann gab sie ihm die Flasche. Er nahm einen großen Schluck. Ah, Wodka, sagte er. Dann umarmten sie sich sehr umständlich. Nase und Rippen mussten geschont werden.

Zum ersten Mal seit sechs Jahren hatte Grete Palock einen Mann berührt. Sie hatte es nicht vermisst. Aha, dachte sie, das ist der Unterschied. Krieg oder Frieden. An diesem Tag lief sie an den Fluss, sie hüpfte ja richtig. Oder? Oder, ich muss dir was sagen, rief sie. Sie fand sich albern. Ihr fiel ihr eigenes Alter ein. Sie war doch noch sehr jung.

Drei Wochen lang pflegte sie Vitali, sie freute sich immer darauf, den Verband zu wechseln. Also, auf die Berührungen. Und sie freute sich darauf, an seiner Nase zu wackeln. Behutsam, versteht sich. Wodka, Frieden. Oder: Frieden, Wodka. So grüßten sich beide.

An dem Tag, als Vitali wieder gut laufen, tief durchatmen und beide Arme schwingen konnte, als wollte er über die Oder fliegen, hielt ein Lastwagen vor ihrem Hof. Ein Offizier sprang ab, er machte ein Gesicht, als hätte er den Krieg allein geführt, und trug einen polnischen Adler auf der Uniform. Vitali, rief er und einen langen Nachnamen voller Zischlaute, den Grete Palock nie ausgesprochen hatte. Wieder wurden Menschen sortiert. Pole oder Deutscher? Pole. Also ab, rüber über die Oder. Vitali hatte nicht viel zum Einpacken, dann winkte er knapp.

Grete Palock bemerkte an sich ein Gefühl, dass sie noch nicht kannte. Sie vermisste Vitali. Einige Tage später hielt ein Pferdewagen auf ihrem Hof: Zwei Frauen und zwei Knaben saßen darauf in Decken gehüllt, ihre Augen blickten irgendwo ins Unbestimmte. Sie konnten nicht mehr vom Wagen springen, so schwach waren sie. Was der Fluss heute so anspült, dachte Grete Palock. Ich heiße Grete, sagte sie. Mehr sagte sie nicht, sie nahm die Fremden auf. Erstmal gab’s warmes Essen. Ein Glück waren die Flüchtlinge Bauern. Sie konnten bald helfen auf dem Hof. Grete Palock war zufrieden. Sie konnte jetzt öfter an den Fluss. Sie erschrak, als sie sich beim Weinen erwischte. Sie vermisste Vitali noch immer.

Morgens, wenn die Sonne über der Oder aufging, sah Grete Palock auf den Fluss. Als würde sie etwas planen oder berechnen. Sie hatte ein Geheimnis.

An einem Juni-Morgen im Jahr 1945 ging sie den Damm hoch und an der anderen Seite herunter. Sie fühlte sich angezogen von dem Fluss und überwältigt von ihrer eigenen Erwartung. Sie zog ihren blauen Kittel und die Holzschuhe aus und behielt nur die Wäsche an. Man hätte sie für einen Mann halten können, so kräftig war sie. Grete Palock ging an diesem Tag an die Spitze der nächsten Buhne. Sie ging ins Wasser. Oder, liebe Oder, sagte sie, bring mich zu Vitali. Dann schob sie das Wasser fort mit ihren kräftigen Oberarmen und ihren großen Händen.

An diesem Juni-Tag saß der Pole mit dem Vornamen Vitali und dem sehr komplizierten Nachnamen mit einer Angel an der Seite der Oder, die nun zu Polen gehörte. Er saß sechs Kilometer entfernt von dem Dorf, in dem er Zwangsarbeiter gewesen war.

Vitali träumte ein wenig, er schaute nicht auf die Angel. Er döste, als das Wasser plötzlich Kreise zog und es laut klatschte. Im ersten Augenblick glaubte Vitali, ein Wels habe mit der Schwanzflosse für Unruhe gesorgt. Wels in Fliedermus-Soße, dachte er und bekam Hunger. Aber ein Wels in Wäsche? Vitali rieb sich die Augen. Es war gestern wohl doch zuviel Wodka, dachte er.

Aber der Wels wurde nun einem Menschen immer ähnlicher.

Vitali rief: Grete?

Ja, antwortete Grete.

Wodka?

Frieden!

Dann fiel sie erschöpft ins flache Wasser. Vitali sprang auf, er warf die Angel beiseite, stieß versehentlich seinen Eimer um, aus dem sich ein paar kleine Fische davon machten, und zog Grete Palock aus der Oder.

Einen halben Tag verbrachten Grete und Vitali gemeinsam am Fluss, sie tippte immer wieder gegen seine Nase. Er sagte: Heil. Sie sagte: Nein, gesund, und kicherte. Sie warf kleine Steine ins Wasser. Er lachte dazu. Ihr Glück kam mit sehr wenigen Worten aus.

Irgendwann aber wich die Freude aus ihrem Gesicht. Um zurückzukommen, musste sie bestimmt sehr weit laufen, sie musste stromaufwärts, um – mit der Strömung – wieder an der Stelle anzukommen, an der ihr Hof lag. Daran hatte sie nicht gedacht. Vitali, ich muss los, sagte sie. Muss los, wiederholte er ratlos, umarmte sie und blieb staunend zurück.

Grete Palock schwamm jeden dritten Tag ans andere Ufer. Den ganzen Sommer lang. Sie wurde immer kräftiger. Vitali gefiel das.

Im Oktober wurde das Wasser kalt, der Fluss breiter als im Sommer, die Strudel kräftiger als die Arme von Grete Palock. Die Flüchtlinge auf ihrem Hof wunderten sich, wo sie bliebe. Drei Tage wurde sie vermisst, bis ein Angler sie fand. Auf der deutschen Seite. Erst dachte er, da werde ein Wels angespült. Aber ein Wels in Wäsche? Dann rief er Hilfe. Zu spät. Die Kirche des Dorfes war gut gefüllt zu ihrer Beerdigung. Fast alle Dorfbewohner kamen, obwohl dem Gotteshaus Dach, Altar und Pfarrer fehlten. Ein paar Tropfen fielen auf die Besucher herab. Der Bürgermeister hielt eine Ansprache. Er sprach vom Neuaufbau und pries die neue Ordnung. Er lobte Grete Palock, weil sie die Fremden so gut behandelt habe. Die Flüchtlinge von Grete Palocks Hof weinten. Die meisten Besucher schnappten die neusten Gerüchte über die Schwimmerin auf oder verbreiteten neue. Angeblich war sie eine Spionin. Aber für wen? War es nicht seltsam, dass sie nicht geflohen war vor den Russen? Andere glaubten, sie sei gar keine Frau gewesen. Diese Arme! Wie Oberschenkel! Über Grete Palocks Ende lag Nebel wie über der Oder im Herbst. Und es war ja Herbst. Der Nebel sah in diesen Tagen aus wie eine Decke, unter der es sich gut schlafen lässt.

Kurz vor Ende der Trauerfeier betrat ein Mann mit einem schmalen Gesicht und einem viel zu langen Armee-Mantel die Kirche und setzte sich in die letzte Reihe. Das ist doch ihr Mann, flüsterte einer. Oder?

Der Autor, 49, ist Autor beim Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, zuletzt erschien von ihm die Erzählung „Zitterpartie“ – die Liebesgeschichte eines jungen Parkinsonkranken. Im März liest er in Potsdam.

Stefan Berg

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