Brandenburg: Dunkelziffer nicht unerheblich
Tagung von Fachhochschule Potsdam und Landespräventionsrat zum Schutz der Kinder
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Tagung von Fachhochschule Potsdam und Landespräventionsrat zum Schutz der Kinder Potsdam – Die Zahlen sind schockierend. 2002 bis 2004 wurden in Brandenburg 1338 Kinder Opfer von Misshandlungen. „Das beinhaltet Mord, Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge, schwere Körperverletzung, Menschenraub und Kinderhandel“, sagte Hans-Jürgen Willuda vom Landespräventionsrat Brandenburg gestern auf einer Tagung der Fachhochschule Potsdam. „Die Dunkelziffer dürfte nicht unerheblich sein.“ In 364 Fällen waren die misshandelten Kinder unter sechs Jahren (27 Prozent). Allein 2004 gab es 14 Fälle von Kindern unter sechs Jahren, 71 Prozent der Opfer wurden von Familienangehörigen misshandelt. Der Fall des kleinen Pascal aus Strausberg hatte vor zwei Jahren die Brandenburger Öffentlichkeit wach gerüttelt. Der damals zweijährige Junge war durch Misshandlungen des Lebensgefährten der Mutter so schwer verletzt worden, dass er zeitlebens geistig und körperlich schwerstbehindert bleiben wird – nur ein Teil seines Gehirns funktioniert noch, er ist fast blind. Der leibliche Vater hatte mehrfach die Behörden auf das Martyrium seines Sohnes aufmerksam gemacht, ohne Erfolg, eine Anzeige verschwand sogar einfach. „Wir können hier nur die Angeklagten verurteilen“, sagte der Vorsitzender Richter am Landgericht in Frankfurt/Oder, Ulrich Gräbert bei der Urteilsverkündung im November 2003. „Aber sehr viele Menschen trifft eine moralische Schuld daran, dass ein kleiner Junge über lange Zeit furchtbar gequält wurde.“ Es hätten alle Schutz- und Kontrollinstanzen versagt. „Unverständlich bleibt auch das Verhalten von Freunden, Verwandten, Ärzten, Polizisten und Jugendamtsmitarbeitern, die aus Angst, Ignoranz oder Bequemlichkeit wegschauten und nicht einschritten.“ Der Richter sprach damals von einer moralischen Mitschuld der Behörden: „Jene, die ihm hätten helfen können und müssen, waren einfach nur feige.“ Das Land Brandenburg reagierte auf Vorfälle wie diesen vergangenes Jahr mit einem Landtagsbeschluss, der die Stärkung des Kinderschutzes gegen Gewalt vorsieht. Bei der Polizei wurden Opferschutzbeauftragte berufen, auf die Sensibilisierung der Beamten wurde geachtet, Kontaktpersonen für betroffenen Einrichtungen berufen und eine Fachtagung veranstaltet. „Die breite Diskussion wird weiter geführt, um den Akteuren das nötige Rüstzeug an die Hand zu geben“, sagte Hans-Jürgen Willuda. Die Jugendämter sind durch die Fälle besonders ins Kreuzfeuer geraten. Einerseits wird ihnen Versagen und unterlassenen Hilfeleistung vorgeworfen. Andererseits werde oft befürchtet, dass die Ämter den Familien ihre Kinder wegnehmen. So entstehe eine Hemmschwelle zum Jugendamt zu gehen, wenn man Hilfe braucht, hieß es auf der FH-Tagung. Der Leiter des Potsdamer Jugendamtes, Norbert Schweers übte sich in Selbstkritik. Die Jugendämter seien zu defensiv, sie müssten stärker über ihre Hilfsfunktion aufklären. Dr. Andreas Meysen vom Institut für Jugendhilfe und Familienrecht wies zudem darauf hin, dass die Suche nach den Schuldigen sehr komplex ist. „Oft gibt es Probleme in der Erziehung, hier brauchen die Eltern Hilfe“, erklärte er. Die Tagung an der Potsdamer FH zog überraschend viele Teilnehmer an. Man hatte mit 70 gerechnet, über 270 kamen. Ein Grund für das große Interesse sah Prof. Peter-Christian Kunkel (Verwaltungs-FH Kehl) in einer Gesetzesänderung. Neuerdings müssen sich Mitarbeiter von Behörden wegen unterlassener Hilfeleistung oder Amtspflichtverletzungen vor Gericht verantworten. „Das erhöht nicht nur den Druck auf die Mitarbeiter, sondern kostet auch Geld.“
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