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Brandenburg: Ein Schnitt durch die Geschichte

Die Kritik an der Reform des Lehrplans reißt nicht ab. Worüber wird eigentlich gestritten? Die wichtigsten Antworten

Stand:

Berlin/Potsdam - Bald soll alles anders werden: Ab dem Schuljahr 2016/2017 sollen in Berlin und Brandenburg neue Lehrpläne für die Klassen eins bis zehn gelten. Wie berichtet gibt es besonders viel Kritik an den Plänen für das Fach Geschichte. Mehr als 3000 Personen haben bereits eine Petition gegen die geplanten Änderungen unterzeichnet.

Was wird in Geschichte geändert?

In Klasse 7 und 8 soll künftig ausschließlich mit dem Längsschnittverfahren unterrichtet werden. Es geht also nicht chronologisch vom Mittelalter bis zur Industrialisierung, wie es im bisherigen Lehrplan für diese Klassenstufen vorgesehen war, sondern ein Thema, zum Beispiel Migration, wird in verschiedenen historischen Dimensionen untersucht. Beim Thema Migration, Flucht und Vertreibung könnte es im Unterricht beispielsweise zunächst um die aktuelle Situation der Flüchtlinge in Berlin gehen, dann um die Hugenotten, die Auswanderung von Deutschen in die USA oder um Emigration nach 1933. Mindestens vier solcher Längsschnitte müssen behandelt werden. Obligatorisch sind die Längsschnitte Armut und Reichtum sowie Migration, Flucht und Vertreibung. Diese beiden Einheiten sollen auch fächerübergreifend mit Geografie und Politischer Bildung unterrichtet werden. Als weitere Längsschnitte stehen zur Auswahl: Der Weg zur modernen Demokratie; Krieg und Frieden; Deutsche und Polen; Juden, Christen und Muslime; Geschlechteridentitäten; ländliche und städtische Lebenswelten; Weltbilder, Bildung und Erziehung; der Mensch in seiner Umwelt; Handel im Wandel. In Klasse neun und zehn geht es dann chronologisch weiter: von der Industrialisierung bis zur Wiedervereinigung.

Was sagen die Kritiker?

Die Inhalte seien zu beliebig, sagt Geschichtslehrer Robert Rauh, der eine Petition gegen die Änderungen initiiert hat. Es könne sein, dass Schüler in die neunte Klasse wechseln, ohne etwas von Französischer Revolution oder Aufklärung gehört zu haben. Welche Zeiten für einen Längsschnitt ausgewählt werden, bleibe den Lehrern selbst überlassen. Eine Referendarin beschreibt in einem Gastbeitrag auf der Homepage der Kritiker, wie schwer es ihr und anderen Lehramtsanwärtern fiel, ein Unterrichtskonzept zum Längsschnitt „Krieg und Frieden“ auszuarbeiten. „Welches aktuelle Ereignis wähle ich? Welcher Krieg muss unbedingt rein? Verzichte ich eher auf die Antike oder das Mittelalter? Die Ergebnisse reichten von der UN-Mission im Kongo über den Peloponnesischen Krieg über den 1. und 2. Weltkrieg.“ Rauh bemängelt zudem: „Es geht nicht, dass den Lehrkräften vorgeschrieben wird, welches Verfahren sie einsetzen. In Klasse sieben und acht dürfen es nur Längsschnitte sein, danach muss es dann wieder chronologisch sein.“ Längsschnitte seien für Oberstufenschüler viel geeigneter als für Kinder und Jugendliche bis Klasse 8.

Was sagen die Befürworter?

Der große Vorteil des Längsschnittverfahrens sei die Anbindung an die Lebenswelt der Schüler, sagen Fachdidaktiker. „Schüler lernen direkt und anschaulich, dass Aspekte unserer Gesellschaft in der Vergangenheit anders waren“, sagt Martin Lücke von der Freien Universität Berlin. „Das wenige, was wir empirisch über Geschichtsunterricht wissen, ist, dass der bisherige Ansatz nicht besonders erfolgreich ist.“ Den Vorwurf, dass mit den Längsschnitten kein historisches Basiswissen vermittelt werde, entgegnet er: „Was soll ein solches Basiswissen sein? Mir ist kein einziger Katalog von solchem Basiswissen bekannt, der nicht einseitig eurozentristische und meistens verengt politikgeschichtliche Geschichtsbilder vermittelt.“ Der Widerstand gegen die Pläne sei auch deshalb so groß, weil mit einer Konvention gebrochen werde, die vielen als selbstverständlich und natürlich galt: „Im Kern steckt dahinter ein Geschichtsbild, das davon ausgeht, dass es ,die Geschichte’ gibt – und dass sich Schüler in dieser Geschichte zu orientieren haben.“ Der neue Entwurf drehe dies um: Geschichte soll den Schülern helfen, sich in ihrer Gegenwart zu orientieren. Einige Kritikpunkte hat aber auch Lücke: Er sei für Methodenvielfalt, und dass ab Klasse neun wieder chronologisch gearbeitet wird, ist für ihn „alter Wein in alten Schläuchen“.

Was hat es mit dem neuen Fach „Gesellschaftswissenschaften“ auf sich?

In Klasse 5 und 6 sollen Geschichte, Politische Bildung und Geografie nicht mehr wie bisher blockweise nacheinander, sondern in einem eigenen Fach „Gesellschaftswissenschaften“ unterrichtet werden. Es gibt sechs obligatorische Themenfelder: Ernährung – wie werden Menschen satt?, Wasser – für jedermann?, Stadt und städtische Vielfalt – Gewinn oder ein Problem?, Europa – grenzenlos?, Tourismus und Mobilität – schneller weiter klüger?, Demokratie und Mitbestimmung – Gleichberechtigung für alle? Außerdem gibt es sechs Wahlthemenfelder, zum Beispiel Mode und Konsum oder Medien und Religionen. Kritiker bemängeln, dass das Fach Geschichte nahezu verschwindet. Auch Martin Lücke hat Bedenken: „Historisches Lernen in Klasse 5 und 6 wird in der Tat eine Herausforderung.“ Dafür seien unbedingt Fortbildungen für die Lehrer nötig und überzeugendes Unterrichtsmaterial.

Welche Änderungen gibt es noch?

Auch für alle übrigen Fächer bis Klasse 10 gibt es neue Pläne, aber ähnlich heftige Kritik wie bei Geschichte blieb bisher aus. Wohl auch deshalb, weil in Geschichte die Änderungen am deutlichsten sind. Hinzu kommt, dass viele Schulgremien noch nicht dazu gekommen sind, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. „Es gibt noch viel Aufklärungsbedarf“, sagt Landeselternsprecher Norman Heise. Sylvia Vogt

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