DIE ENTE DES TAGES: Eine Nachrichtenagentur ließ das Tor zu früh auf gehen
Die Mauer war auf, der Vorhang durchlässig statt eisern, doch das Tor, das war noch zu. Das Tor war aber nicht nur in Berlin, sondern auch und vor allem in Übersee das Symbol für die Teilung der Welt.
Stand:
Die Mauer war auf, der Vorhang durchlässig statt eisern, doch das Tor, das war noch zu. Das Tor war aber nicht nur in Berlin, sondern auch und vor allem in Übersee das Symbol für die Teilung der Welt. Wenn sie in den USA, in Indien, in Japan oder Australien von den Verhältnissen im kleinen Europa sonst nichts wussten, spätestens seit Ronald Reagans pathetischem Aufruf an Gorbatschow war das Bild überall präsent. Für die internationalen Nachrichtenagenturen stand der Tag, in dem auch dort die Mauer fiel, also hoch auf der Agenda. Tag und Nacht lauerten Fotografen in nebliger Kälte auf den entscheidenden Moment, unten am Boden und hoch oben auf Kranbühnen. Tag und Nacht saßen
Reporter in den Redaktionen bereit, die Eilmeldung schon vorgeschrieben. Eines Tages erspähte ein Reuters-Fotograf
drüben auf der Ostseite Bewegung: schwere Lastwagen! Arbeiter! Der Mann griff zum Handy – ein kiloschwerer Kasten mit klassischem Telefonhörer – und gab seiner Redaktion Alarm. Und der alte, erfahrene, penible Redakteur tat zum ersten und einzigen Mal in seinem Berufsleben nicht, was er immer getan hatte: Er fragte nicht nach, sondern drückte den Sendeknopf.
Doch draußen am Tor drehten die schweren Lastwagen eine Kurve und entschwanden
irgendwohin. So kam es, dass die Nachrichtenagentur Reuters das Brandenburger Tor zu früh aufgehen ließ. Der arme Redakteur aber hat sich das, weil er ein
feiner Kerl von alter Schule war, nie wirklich verziehen. bib
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