Brandenburg: Eine Stadt sucht ihre Mitte
Rund 3,5 Kilometer lang zieht sich die Friedrichstraße wie ein Rückgrat durch Berlin
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Rund 3,5 Kilometer lang zieht sich die Friedrichstraße wie ein Rückgrat durch Berlin Von Ulrike von Leszczynski Berlin. In der Berliner Friedrichstraße haben Boutiquen ihre Frühjahrsmode hinter edlen Glasfronten in Szene gesetzt. Die Flacons teurer Parfüme ziehen die Blicke auf sich. Das ist die Schokoladenseite der berühmten Straße, Stein gewordene Vision der Stadtplaner und ihres Traums vom neuen Berlin. Doch es gibt auch die andere Seite der langen Achse durch Berlins alte Mitte. Immer mehr Büros stehen leer, auch die Berlin-Redaktionen der „Zeit“ oder des „Stern“ wollen der guten Adresse den Rücken kehren - die Mieten sind zu hoch. Trotz der Bauten renommierter Architekten wirkt die Friedrichstraße wenig spektakulär, fast kraftlos. So, als kämpfe sie gleichermaßen gegen die Mythen der Vergangenheit und die überzogenen Hoffnungen der 90er Jahre. Rund 3,5 Kilometer lang zieht sich die Friedrichstraße wie ein Rückgrat durch Berlins alte Mitte. Eine schnurgerade Nord-Süd-Achse von der Szenemeile am Oranienburger Tor über den pulsierenden Bahnhof Friedrichstraße und die Kreuzung Unter den Linden hin zum ehemaligen Checkpoint Charlie. Nur hier lebt noch die Erinnerung an die Teilung der Stadt, an eine Friedrichstraße Ost und West. Heute endet die Straße wieder am Halleschen Tor. Doch von Geschlossenheit kann 14 Jahre nach dem Mauerfall noch keine Rede sein. Die Urteile über die Friedrichstraße könnten gegensätzlicher kaum sein. Berlins Tourismus-Gesellschaft preist das New Yorker Flair der „legendärsten Straße der Stadt“. Scharfzüngige Kritiker fühlen sich dagegen an die Einkaufszone von Gelsenkirchen erinnert. Sie bemängeln den sterilen Stil jenseits der Glanzpunkte wie den Galéries Lafayettes oder den postmodernen Quartieren nahe dem Gendarmenmarkt. Für die Stadtbaurätin des Bezirks, Dorothée Dubrau (Grüne), ist die Friedrichstraße nach dem Büro-Bauboom und dem Spekulieren auf schnelle Rendite nun in der Realität angekommen. „Vielleicht gibt es noch ein paar Konkurse und Insolvenzen, und dann herrscht Normalität beim Mietniveau“, sagt sie. Langfristig glaubt sie an eine Blüte. Stadtentwicklungs-Senator Peter Strieder (SPD) blickt lieber auf das zurück, was in den vergangenen Jahren Positives mit dem zerfurchten Bild einer geteilten Stadt geschehen ist. Das ist viel, doch beide Haltungen helfen in der Gegenwart wenig weiter. Auf vielen Teilstücken der Friedrichstraße sieht es aus wie im permanenten Immobilien-Schlussverkauf: „zu vermieten“, „keine Provision“. Vielleicht hat das verworrene Bild der Friedrichstraße nicht allein mit der wirtschaftlichen Lage, sondern auch mit einem diffusen Berlin-Gefühl zu tun. Mit dem Wunsch, inmitten des Neuen schnell eine neue Identität zu finden. Nur mangelt es bei dem rasanten Tempo des Wandelns an Ruhe und Gelassenheit. „Die Friedrichstraße beißt sich durch“, sagt Nils Busch-Petersen als Chef des Einzelhandels-Verbandes zum Umsatz der Geschäfte. Das trifft auch die Atmosphäre gut. Am alten Checkpoint Charlie tummeln sich an kalten Wintermorgen Schulklassen. Hier blüht der Mauer-Devotionalienhandel, doch ein Bild von Berlins Mitte ist schwer zu fassen. Das Auge überblickt eine Art neues Niemandsland. Glatte Neubau-Fronten engen die erhaltenen Kaiserzeit-Fassaden ein. Die U-Bahn-Station „Stadtmitte“ verwirrt die Gäste der Stadt vollends. Hier gibt es keine Mitte, nicht einmal das Gefühl davon. Die Friedrichstraße der 20er Jahre, die Vergnügungs-Meile mit gemütlichen Kneipen, Cafés, Varietés und Theatern, sie gibt es nicht mehr. Doch es gibt Anderes, Neues: den Friedrichstadtpalast als Revuetheater, den Tränenpalast als Kultur-Bühne, das bissige Kabarett Distel, das Kulturkaufhaus Dussmann oder Kaffeehäuser. Die schmale Friedrichstraße mit ihrem lauten Durchgangsverkehr war ohnehin nie ein traditioneller Einkaufs-Boulevard. So verharrt die Friedrichstraße im Zwiespalt. Auf jedem Teilstück zieht sie anderes Publikum an, verweigert sich jeder Definition. Vielleicht hat gerade dieses Bild Tradition. 1919 schrieb der Romancier Robert Walser: „Niemals sterben hier die Bewegungen und Erregungen ganz aus. Wenn das Leben am oberen Ende der Straße beinahe aufhören will, so fängt es am unteren Ende von neuem an.“
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