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Von Heidi Jäger: Einen Spalt geöffnet

Loretta Walz stellte gestern ihr Pilotprojekt „Die Frauen von Ravensbrück – das Videoarchiv“ vor

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Potsdam - Sie sind hochbetagt und ihre Lebenserinnerungen drohen zu verschwinden. Doch was die Frauen von Ravensbrück zu erzählen haben, sollten auch die nachfolgenden Generationen erfahren. Zu diesem Entschluss kam die Filmemacherin Loretta Walz, als sie vor 30 Jahren Frauen aus der Lagergemeinschaft Ravensbrück bei ihrem jährlichen Treffen kennenlernte. „Meine naive Jugend, die faszinierenden Damen und die neue Videotechnik kamen damals auf den Punkt zusammen.“ Fortan verschrieb sich die engagierte Regisseurin und Autorin, die inzwischen das Bundesverdienstkreuz trägt, den Interviews. 200 ganzheitliche Geschichten auf 900 Stunden gedrehtes Material sind seitdem entstanden, fern jeder Heroisierung und doch mit aller Achtung vor der Zivilcourage, den Ängsten und Sehnsüchten jeder einzelnen Frau. Wie verlief ihre Zeit vor dem KZ? Durch welche Hölle sind sie gegangen? Wie fassten sie in der Freiheit wieder Fuß?

Dieses unwiederbringliche biografische Material möchte die 54-jährige gebürtige Stuttgarterin gemeinsam mit dem Filmemacher und Internet-Gestalter Ulrich Rydzewski nach und nach in eine Datenbank speisen. Gestern stellten sie im Potsdamer Großen Waisenhaus ihr Pilotprojekt „Die Frauen von Ravensbrück – Das Videoarchiv“ vor, in dem zunächst fünf Lebensgeschichten deutschsprachiger Interviewpartnerinnen für die medienpädagogische Arbeit in den Schulen aufbereitet sind. „Wir dachten, wir müssen etwas Überzeugendes präsentieren, um ein Stück voran zu kommen auf dem Weg zu unserem Traum.“ Der soll dann alle 200 Interviews in dem Videoarchiv vereinen.

Noch ist alles in der Startphase, aber dennoch können sich schon jetzt Schulen nach vorherigen Anmeldung per Email in das Internetportal einloggen. „Eine unserer Nutzungsbedingungen ist jedoch, dass wir mit den Schülern in einen Erfahrungsaustausch treten.“ Und dafür bietet das Archiv spannende Ansätze.

Die Lebensgeschichten der fünf ausgewählten Frauen lassen ahnen, wie weit gefächert die Umstände der Inhaftierung und die seelische Betroffenheit der Frauen waren. Lieselotte Thumser-Weil arbeitete als Krankenschwester in einem kirchlichen Behindertenheim und erlebte mit, wie Kinder in den Tod geschickt wurden. Als sie sich offen gegen die Euthanasie aussprach und den Kirchenleuten Vorhaltungen machte, verständigten diese die Gestapo. In Ravensbrück arbeitete Lieselotte in der SS-Schneiderei. Die Schläge, die sie dort erhielt, machten sie für ihr weiteres Leben zur Prothesenträgerin. Im April 1945 gelang ihr die Flucht vom „Todesmarsch“. 1984 sprach die inzwischen Verstorbene zum ersten Mal über die Zeit im KZ.

Ilse Heinrich ist als Jugendliche mehrmals von zu Hause ausgerissen, weil sie in der Stadt arbeiten wollte. Die Gestapo griff sie auf und brachte sie als „Arbeitsscheue“ nach Ravensbrück. „Heute lacht man darüber, weil es so was gar nicht mehr gibt. Ich kann hinfahren, wo ich will ... Bei Hitler gab’s das nicht“, sagt sie in dem Interview.

Das jüdische Mädchen Esther Bejarano spielte ein halbes Jahr lang Akkordeon im „Mädchenorchester von Auschwitz“, das die Kolonnen, die zur Arbeit oder in den Tod gingen, „begleiten“ sollte. Dann wurde sie nach Ravensbrück verlegt und zur Zwangsarbeit für Siemens verpflichtet. In „Sippenhaft“ wurde Isa Vermehren genommen, weil ihr älterer Bruder 1944 im Ausland um politisches Asyl ersucht hatte.

Charlotte Thürling war 20, als sie im Rüstungsbetrieb arbeitete und russische Zwangsarbeiterinnen einweisen sollte. Einer schwangeren Russin brachte sie Nahrung und Babywäsche mit. Dass dies der Grund ihrer Verhaftung war, erfuhr sie erst viel später. Was bedeutet es, Zivilcourage zu zeigen, früh „Nein“ zu sagen? Das Videoarchiv gibt viele Antworten. Und könnte noch viel mehr geben. Doch bereits das Pilotprojekt mit fünf Interviews kostete 25 000 Euro, für 200 aufbereitete Lebensgeschichten wären es fünf Millionen Euro. Das können die bisherigen Unterstützer, das brandenburgische Jugendministerium und die Stiftung Großes Waisenhaus Potsdam nicht mehr schultern. „Andere müssen mit ins Boot, vielleicht die Stiftung Zukunftsfonds, die auch für die Entschädigung von Zwangsarbeitern eintritt“, so Ministeriumsreferent Matthias Hoffmann.

Das Tor in die manifestierte Vergangenheit der Frauenkonzentrationslager ist erst einen Spalt geöffnet.

Interessierte Schulklassen können sich unter post@loretta-walz.de für die Projektarbeit im Videoarchiv anmelden.

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