Potsdams Justiz ist langsam: Entschädigungen sind günstiger als neue Richter
Fast sieben Jahre musste ein Potsdamer Student auf sein Urteil warten. Inzwischen klagt er wegen des langen Verfahrens selbst auf Schadensersatz - vor dem Bundesverwaltungsgericht.
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Potsdam - Sechs Jahre, sieben Monate, fünf Tage – so lange beschäftigte sich das Verwaltungsgericht Potsdam mit der Bafög-Klage eines Potsdamer Geologiestudenten, bis ein Urteil erging. Mittlerweile klagt der Ex-Student wegen des überlangen Verfahrens auf Schadensersatz. Seit Mittwoch wird vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig darüber verhandelt – und es werden wohl erstmals höchstrichterliche Kriterien aufgestellt, wie lang Verfahren dauern dürfen. Am Freitag soll das Urteil fallen. Das Gesetz, zu dem sich Deutschland nach einer Rüge des Europäisachen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg durchgerungen hatte, gibt es seit Dezember 2011.
Der Fall, der am 27. Juni 2003 beim Verwaltungsgericht Potsdam einging, schien einfach gelagert. Das Studentenwerk forderte rund 17 100 Euro Ausbildungsförderung zurück, weil dem Studenten das Vermögen auf seinem Konto anzurechnen gewesen sei. Der Student widersprach, er will das Geld für seinen Bruder verwaltet haben. Im März 2004 erklärten sich beide Parteien damit einverstanden, dass statt der Kammer ein Einzelrichter entscheidet. Auch auf eine mündliche Verhandlung wurde verzichtet. Zwei deutliche Zeichen, dass größere Schwierigkeiten nicht gesehen wurden.
Aber es passierte fast nichts, erst am 2. Februar 2010 wurde das Urteil verkündet. Nur dreimal schrieb das Verwaltungsgericht zuvor, dass eine Entscheidung nicht anstünde. „Verfahrensleitende Verfügungen erfolgten von März 2004 bis Januar 2010 ansonsten nicht“, stellte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg fest, das dem Ex-Studenten in erster Instanz bereits 4000 Euro Schadensersatz zusprach.
4000 Euro, 40 Monate mit je 100 Euro Entschädigung – das ist aus Sicht von Clemens Vogelsberg nicht genug. Der Berliner Rechtsanwalt, der den Ex-Studenten vertritt, will 6000 Euro einklagen – das entspricht ein Verzögerung von fünf Jahren. Er meint, dass fälschlicherweise eine normale Verfahrensdauer von 40 Monaten angesetzt wurde. Erst danach beginne die Verzögerung. Das sei bei diesem einfach gelagerten Fall viel zu lang.
Vogelsberg sieht durch die Verzögerung sogar „die Verfassung nachhaltig missachtet“. „Brandenburg ist eines von zwei Bundesländern, das in seiner Verfassung ein zügiges Gerichtsverfahren ausdrücklich garantiert", sagt er mit Blick auf Artikel 52 der Verfassung. Brandenburg sei aber auch das Land, das bei der Bearbeitungsdauer im Bundesvergleich die letzten Ränge einnehme. „Symbolpolitik und Lippenbekenntnisse“ moniert der Anwalt – und will dies auch in der Verhandlung thematisieren.
Für seinen Mandanten hatte er wegen der Bafög-Bescheide übrigens Erfolg. Die zweite Instanz entschied nach einer vierstündigen Beweiserhebung zugunsten des Klägers – nachdem insgesamt knapp neun Jahre das Damoklesschwert der Rückzalung von rund 17100 Euro über ihm geschwebt hatte.
Dabei ist der Fall des Ex-Studenten nur die Spitze des Eisbergs im Land Brandenburg. Im Jahr 2012 wurde das Land Brandenburg 60 Mal auf Schadensersatz wegen überlangen Verfahren verklagt, davon 13 Mal wegen angeblicher Verzögerungen an den Verwaltungsgerichten. Bezahlt hat das Land im vergangenen Jahr 7550 Euro – allesamt resultierend aus Verfahren der Verwaltungsgerichte. Zum Vergleich: Ein Richter mittleren Alters kostet das Land pro Monat rund 4000 Euro brutto plus Kosten für die Beihilfe, also rund 55 000 Euro im Jahr. „Für das Land ist es preiswerter, Entschädigung zu zahlen, als Richter einzustellen“, sagte Matthias Deller vom Deutschen Richterbund. Immerhin: An den Verwaltungsgerichten ist die durchschnittliche Verfahrensdauer von 35 Monaten (2007) auf 19,5 Monate (2012) gesunken. Das Brandenburger Verfassungsgericht kritisierte bereits im Dezember 2009 die Verfahrensdauer bei den Verwaltungsgerichten und die Personaleinsparungen bei den Gerichten.
Größeres Sorgenkind sind aber die Sozialgerichte. Hier gingen 2012 bereits 33 Entschädigungsklagen ein. Noch dramatischer ist die Zahl der Verzögerungsrügen, die erhoben werden müssen, um später Schadensersatz geltend machen zu können. 245 Mal wurde ein überlanges Verfahren moniert, davon 121 Mal in Hartz-IV-Verfahren. Insgesamt an allen Gerichten gingen 455 dieser Rügen ein – 59 an den drei Verwaltungsgerichten, 37 an den 24 Amtsgerichten, 31 an Landgerichten und 19 am Finanzgericht.
Strenger als in Brandenburg war übrigens das OVG Sachsen-Anhalt im Fall einer Polizistin, die gegen ihre Versetzung klagte. Zwei Jahre seien zu lang, ein Jahr hätte das normale Verfahren dauern dürfen – ein großer Unterschied zur Brandenburger Rechtsprechung. Auch über diesen Fall wird das Bundesverwaltungsgericht jetzt verhandeln – und voraussichtlich am Freitag Grundsatzurteile fällen.
Ingmar Höfgen
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