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Brandenburg: Fachwerkdorf lädt zum Kolonistentag
Neulietzegöricke im Oderbruch warb erfolgreich um Neubürger / Mehrere Berliner Familien siedelten sich an
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Neulietzegöricke - Peter Nagel kann sich gut daran erinnern, als er vor über fünf Jahren gemeinsam mit seiner Frau erstmals nach Neulietzegöricke kam. „Wir waren damals zum Tag des offenen Denkmals als Ausflügler im Oderbruch“, erinnert sich der Berliner. Nagels blieben an einem baufälligen, 15 Jahre lang unbewohnten Fachwerkhäuschen „hängen“. „Es war Liebe auf den ersten Blick, nicht nur was das Gebäude betrifft, sondern auch den Ort und seine Bewohner“, bekennt der Zuzügler.
Nagel ist längst nicht der einzige, der dem Charme des ältesten Kolonistendorfes im Oderbruch erlegen ist. Dafür sorgte nicht zuletzt Bürgermeister Horst Wilke. Er hatte vor acht Jahren öffentlichkeitswirksam um Neu-Kolonisten geworben. Angelehnt an die Geschichte des 1753 entstandenen Ortes, veröffentlichte er Annoncen auf der Grünen Woche und der Internationalen Tourismus-Börse (ITB), um das komplett unter Denkmalschutz stehende Dorf vor dem Aussterben zu bewahren. Der Erfolg war so groß, dass Neulietzegöricke am kommenden Samstag den 1. Lietzer Kolonistentag feiert.
„Wir haben es geschafft, dass unser Dorf nicht ausstirbt“, sagt Wilke stolz. Die Abwanderungszahlen seien zuvor alarmierend gewesen. „Man konnte es den Leuten nicht verdenken, dass sie wegzogen“, sagt der hauptberufliche Eisenbahner, seit 1990 ehrenamtliches Gemeindeoberhaupt. Arbeit gibt es in der dünn besiedelten Flussauenlandschaft östlich von Berlin kaum. Das Oderbruch liegt weitab vom Schuss, ohne Auto sind Schule, Kita, Ärzte oder Supermarkt nicht zu erreichen.
„Lietze“, wie das Dorf von den Einheimischen kurz genannt wird, hat es trotzdem geschafft. „Statt Verfall prägen gepflegte Anwesen das Dorfbild“, sagt Gemeindevertreter Eckhard Borkenhagen, Nachfahre einer alten Kolonistenfamilie, die 1753 aus dem Warthebruch nach Neulietzegöricke kam. In dem 193-Seelen-Ort gibt es einen kleinen Tante-Emma-Laden im Dorfgemeinschaftshaus, in dem man dank eines Backautomaten sogar frische Brötchen bekommt. Außerdem verfügt der Ort über Sport- und Spielplatz, Rodel- und Seifenkistenberg, die gut besuchte Kneipe „Zum feuchten Willi“ sowie ein reiches Vereinsleben. Und „Lietze“ ist laut Wilke das Dorf mit der höchsten Fachwerk-Dichte in Brandenburg. Insgesamt gebe es 27 Fachwerkhäuser, nicht mitgezählt die 170 Jahre alte Dorfkirche, die massiv verblendet, aber eigentlich ein Fachwerkbau ist. Nicht nur Familie Nagel schwärmt über den Zusammenhalt im Dorf. „Hier ist keiner allein, der es nicht will“, erzählt Gudrun Cieslak, ebenfalls aus Berlin nach Neulietzegöricke umgesiedelt. Sie fühle sich angekommen, betont die Rentnerin.
Ebenso wie Familie Cieslak hat Wilke auch die Nagels bei ihrer Ansiedlung unterstützt, ihnen ortsansässige Handwerker vermittelt, Ratschläge zu möglichen Fördermittelquellen erteilt und sie in sämtliche Dorfaktivitäten von Beginn an einbezogen, wie die ehemaligen Hauptstädter berichten. Die Rettung ihres Fachwerkhauses hat sich über Jahre hinzogen. Von der alten Bausubstanz konnten nur wenige Balken, die Fenster und die zweiflügelige Eingangstür sowie einige Wände des früheren Hausflures erhalten werden. „Inzwischen ist das Haus fast das schönste in Lietze“, sagt der Bürgermeister ganz ohne Neid. Nagels vermieten erfolgreich Fremdenzimmer unter dem Motto „Urlaub im Kleinkolonistenhaus“.
Inzwischen sind Fachwerkhäuser in Neulietzegöricke knapp. Übrig sind laut Wilke nur noch zwei, drei „Problemfälle“, bei denen Grundstücke und Immobilien mit Hypotheken belastet sind oder weit verstreute Erbengemeinschaften zu viel Geld haben wollen. Zwar gibt es seinen Angaben zufolge noch unbebaute Grundstücke in „Lietze“. „Doch merkwürdigerweise sind potenzielle Neu-Kolonisten nur an den alten Bauernhäusern interessiert. Die wollen gar nicht neu bauen“, sagt der Bürgermeister. Vielleicht jedoch kommt der eine oder andere Besucher beim ersten Kolonistentag auf den Geschmack, dessen Höhepunkt historische Führungen sein werden. Normalerweise schlüpft Wilke zu solchen Anlässen ins Kostüm eines früheren Dorfschulzen. Am Samstag jedoch wird der „Alte Fritz“ Besucher durch sein ältestes Kolonistendorf im Oderbruch geleiten.
Bernd Kluge
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