Brandenburg: Keine Richtwerte für Verfahrensdauer Bundesverwaltungsgericht: Brandenburg muss Ex-Studenten Entschädigung zahlen
Leipzig/Potsdam - Auch wenn das Bundesverwaltungsgericht am gestrigen Freitag in Leipzig einem früheren Potsdamer Studenten eine Entschädigung von 6000 Euro wegen eines sehr langen Gerichtsverfahrens zugesprochen hat, bleiben zwei Fragen weiterhin unbeantwortet: Ab wann sollen Gerichtsverfahren als zu lang gelten und in welchen Fällen muss deshalb aus der Staatskasse Entschädigung gezahlt werden? Der fünfte Senat des Bundesverwaltungsgerichts entschied gestern erstmals höchstrichterlich über die Auslegung des Entschädigungsgesetz, das auf Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg zurückgeht, seit Dezember 2011 gilt und auf dessen Grundlage Schadenersatz verlangt werden kann, wenn Gerichtsverfahren eine überlange Dauer beanspruchen.
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Leipzig/Potsdam - Auch wenn das Bundesverwaltungsgericht am gestrigen Freitag in Leipzig einem früheren Potsdamer Studenten eine Entschädigung von 6000 Euro wegen eines sehr langen Gerichtsverfahrens zugesprochen hat, bleiben zwei Fragen weiterhin unbeantwortet: Ab wann sollen Gerichtsverfahren als zu lang gelten und in welchen Fällen muss deshalb aus der Staatskasse Entschädigung gezahlt werden? Der fünfte Senat des Bundesverwaltungsgerichts entschied gestern erstmals höchstrichterlich über die Auslegung des Entschädigungsgesetz, das auf Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg zurückgeht, seit Dezember 2011 gilt und auf dessen Grundlage Schadenersatz verlangt werden kann, wenn Gerichtsverfahren eine überlange Dauer beanspruchen.
„Für die zentrale Frage, wann ein Gerichtsverfahren unangemessen lang dauert, gibt es keine festen Richtwerte“, urteilte nun der Vorsitzende Richter des fünften Senats, Jürgen Vormeier. „Angesichts der Vielschichtigkeit und Vielgestaltigkeit der Verfahren ist es in Verwaltungsprozessen in der Regel auch nicht möglich, sich an angenommenen oder statistisch ermittelten Verfahrenslaufzeiten zu orientieren.“
Vielmehr hänge die Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer stets von den Umständen des Einzelfalles ab, womit Vormeier die Schwierigkeit des Verfahrens, dessen Bedeutung und das Verhalten der Beteiligten meinte. „Dabei ist vor allem auch zu prüfen, ob Verzögerungen, die durch die Verfahrensführung des Gerichts eintreten, bei Berücksichtigung des dem Gericht zukommenden Gestaltungsspielraumes sachlich gerechtfertigt sind“, führte der Richter weiter aus.
Für das Verfahren des ehemaligen Potsdamer Studenten schätzte Richter Vormeier ein, dass die Sache einfach gelagert und für ihn zudem wegen der Höhe des Rückforderungsbetrages von erheblicher Bedeutung gewesen sei. Das Studentenwerk Potsdam hatte 2003 von dem Studenten 17100 Euro an Bafög zurückgefordert, weil er über größere Summen an Vermögen verfügt haben sollte. Er bestritt dies und verwies darauf, das Geld für seinen Bruder treuhänderisch verwaltet zu haben. Mit seiner Klage, die er im Juni 2003 beim Verwaltungsgericht Potsdam eingereicht hatte und zu der erst im Februar 2010 ein Urteil erging, hatte er zunächst keinen Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg entschied allerdings im November 2011 zu seinen Gunsten und hob die Rückzahlungsbescheide auf. Hier urteilte nur der fünfte Senat in Leipzig, „dass – auch unter Berücksichtigung eines richterlichen Gestaltungsspielraumes – eine Verfahrensverzögerung von mindestens fünf Jahren vorlag, die sachlich nicht zu rechtfertigen war“. Deshalb sprachen sie dem früheren Studenten eine Entschädigung von 6000 Euro und nicht nur von 4000 Euro zu, wie es das Oberverwaltungsgericht zuvor getan hatte.Der Senat folgte bei seiner Entscheidung, dass jeweils der Einzelfall entscheidend sei, der Argumentation des Vertreters des Bundesinteresses, einer beim Bundesinnenministerium angesiedelten Behörde, der ebenfalls genau dafür plädiert hatte.
Damit bleibt es für Kläger, die vor Gericht ziehen wollen, auch nach den beiden Urteilen des fünften Senats ungewiss, welche genaue Summe sie an Entschädigung realistisch verlangen können und dann auch erhalten werden. Das Gesetz sieht für jeden Monat, den ein Verfahren zu lange dauert, eine Entschädigung von 100 Euro vor, die das jeweilige Bundesland, dessen Landesjustizministerium das jeweilige Gericht untersteht, zahlen muss. In Brandenburg etwa wurden seit Bestehen des Entschädigungsgesetzes in fünf Fällen Entschädigungen von 7550 Euro gezahlt – immer wegen überlanger Verfahren an Verwaltungsgerichten. Beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg gingen im vergangenen Jahr 17 Klagen ein, in denen solche Entschädigungen verlangt werden, 13 davon stammen aus Brandenburg. Die durchschnittliche Verfahrensdauer lag 2012 bei 19,5 Monaten, im Jahr 2007 hatte sie 35 Monate betragen.
Der Vorsitzende Richter Vormeier nutzte das Urteil, um die Personalpolitik der Bundesländer an ihren Gerichten massiv zu kritisieren. „Soweit die Verzögerung auf einer erheblichen Arbeitsüberlastung des Verwaltungsgerichts beruhte, konnte dies nicht als Rechtfertigung dienen, sondern war dem beklagten Land zuzurechnen“, führte Vormeier aus. „Dieses ist gehalten, strukturellen Mängeln etwa durch eine bessere Personalausstattung des Gerichts abzuhelfen.“ Das Brandenburger Verfassungsgericht hatte im Dezember 2009 ebenfalls Personaleinsparungen bei den Gerichten und ein lange Verfahrensdauer bei den Verwaltungsgerichten bemängelt.
Im Fall einer Polizistin aus Sachsen-Anhalt, die erfolgreich gegen ihre Umsetzung in ein anderes Polizeirevier geklagt hatte, entschied der fünfte Senat in Leipzig auch zu ihren Gunsten und wies die Revision des Landes Sachsen-Anhalt ab. Das Land muss nun für ein Jahr Verzögerung 1200 Euro Entschädigung und zusätzlich 1800 Euro für zusätzliche Fahrtkosten der Polizistin zahlen. (AZ: BVerwG 5 C 23.12 und BVerwG 5 C 27.12)Sven Eichstädt
Sven Eichstädt
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