Brandenburg: „Kollegen, die in Arbeit ersaufen“
Ein Berliner Sozialarbeiter kritisiert die Organisation des Kinderschutzes in der Hauptstadt
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Berlin - Eberhard Schneider* ist stinksauer. Seit Jahrzehnten arbeitet der 59-Jährige als Sozialarbeiter für verschiedene Jugendämter in Berlin und stellt dem System ein schlechtes Zeugnis aus. Aus Furcht vor arbeitsrechtlichen Konsequenzen will er seine wahre Identität nicht veröffentlicht sehen. Er sagt, dass immer mehr seiner Kolleginnen und Kollegen an ihre Grenzen stießen. In Berlin sei dies ein strukturelles Problem. Der rigorose Sparkurs habe Spuren hinterlassen.
Es bleibe immer weniger Zeit für Hausbesuche und persönliche Kontakte, klagt Schneider. Im Fall einer syrischen Familie etwa, die er seit einigen Wochen betreut, steht der Sozialarbeiter wie vor einem Berg. Die Familie lebt mit neun Kindern in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung. „Ich habe bislang überhaupt kein Bild von den einzelnen Kindern“, sagt er. Schuld seien bürokratische Pflichten. Seitenweise müssten mittlerweile Formulare für jedes Kind und Familienmitglieder ausgefüllt werden. „Das bindet so viel Energie, das ist Wahnsinn“, schimpft er.
Längst versucht Schneider, sich von diesen Vorgaben zu lösen, hält die Dokumentation knapp und weicht immer mal wieder vom vorgeschriebenen Weg ab: „Da reduziere ich lieber die formalen Sachen - Hauptsache ich mache meine Arbeit gut.“
Im Moment betreut er auch einen zwölfjährigen Jungen, der im Heim lebt. Die Mutter ist Alkoholikerin. Dem Heim wächst der Junge über den Kopf – er raucht, trinkt, tritt Türen ein, ist gewalttätig. Eine neue Unterkunft muss her. Schneider hat deshalb Kontakt mit der Tante des Jungen aufgenommen, mit Heimmitarbeitern und dem früheren Lebensgefährten der Mutter. Sie denken nun gemeinsam darüber nach, wie es mit dem Jungen weitergehen soll. Während solche Gespräche früher im Rahmen der Arbeitszeit stattfanden, müsse er sich dafür heute extra Zeit freischaufeln.
Mit Sorge denkt er an schlagzeilenträchtige Fälle, in denen kaputte familiäre Verhältnisse in einer tödlichen Tragödie endeten. Lea-Sophie verhungerte in Schwerin, Jessica in Hamburg, Dennis in Cottbus. Dass Berlin bislang nicht in der Liste solcher Fälle auftauche, sei reines Glück, sagt auch Georg Ehrmann, Vorsitzender des Vereins Deutsche Kinderhilfe Direkt. „Aber mit einer Häufung dieser Fälle werden wir hier in Zukunft leider rechnen müssen“, argwöhnt er. „Wenn wir nichts ändern, steuern wir auf eine Katastrophe zu.“ In keinem Bundesland sei im Jugend- und Kinderschutz in den vergangenen Jahren so viel Geld gekürzt worden wie in Berlin, sagt Ehrmann. In den vergangenen fünf Jahren seien hier 25 Prozent der Mittel weggebrochen, im Bundesdurchschnitt dagegen rund 15 Prozent.
Seit 2003 hat Berlin die Zahl der Sozialarbeiter in Jugendämtern nach Angaben der zuständigen Senatsverwaltung um über 200 Mitarbeiter reduziert – zu wenig Personal, das allmählich auch zu alt werde: Mittlerweile seien mehr als die Hälfte der Fachkräfte bei den Jugendämtern 50 Jahre und älter, so Ehrmann.
Das stinkt auch Schneider. Die Älteren seien weniger belastbar, öfter krank und müssten häufiger zur Kur. Auch fehle es an Kollegen aus Zuwandererfamilien. Wenn er eine arabische Familie betreue, müsse er immer einen Dolmetscher mitnehmen. Vertrauen lasse sich dadurch sehr viel schwerer aufbauen: „Es ist mir völlig unbegreiflich, dass wir erst jetzt anfangen, Mitarbeiter mit anderen Nationalitäten bei uns einzusetzen“, sagt er.
Mit seiner Haltung ist Schneider im Amt bereits angeeckt. „Das Problem ist, dass die Vorgesetzten, die sich die Anforderungen ausdenken, überhaupt nicht wissen, wie es in der Praxis läuft“, meint der Sozialarbeiter. „Es gibt Kollegen, die in Arbeit ersaufen.“ Die Deutsche Kinderhilfe Direkt geht davon aus, dass ein Sozialarbeiter in der Hauptstadt mittlerweile durchschnittlich 150 Fälle betreut.
Es liege natürlich nicht nur am System, räumt Schneider ein. Auch der einzelne Sozialarbeiter sei fehlbar. Er erinnert sich an das Martyrium eines kleinen Jungen aus einer bosnischen Familie, das jahrelang unbemerkt blieb. Ein Jurist hatte vorgegeben, der Familie helfen zu wollen, unterstützte sie finanziell und hielt Kontakt zu Ämtern. Im Gegenzug ließ er den Jungen bei sich einziehen und missbrauchte ihn über Jahre sexuell. Die Familie wurde während der ganzen Zeit vom Jugendamt begleitet, doch der Betreuer schöpfte keinen Verdacht.
„Es kommt vor, dass Sozialarbeiter die Augen verschließen“, meint Schneider. Weil manche Angst hätten vor überbordender Arbeit oder auch vor abgründigen Verhältnissen. Doch selbst größere Courage, fürchtet er, werde künftig nicht mehr helfen: „Wenn es mit der personellen Ausdünnung so weitergeht, sind Sozialarbeiter bald nur noch für finanzielle Fragen und die Verteilung von Leistungen zuständig.“
* Name und Alter geändert
Christiane Jacke
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