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Brandenburg: Maßstäbe im Recht

Im Jürgens-Prozess greifen alle Seiten zu schärferen Maßnahmen

Stand:

Potsdam - Anne G. stand auf der Namensliste, die die frühere Landtagsabgeordnete Sabine Niels (Grüne) nach der Strafanzeige gegen den Linke-Politiker Peer Jürgens der Staatsanwaltschaft Potsdam im Frühjahr geschickt hatte. Anne G. könnte, so Niels damals, bezeugen, dass Peer Jürgens gar nicht bis 2011 in Erkner und danach in Beeskow gewohnt habe. Doch Anne G., eine Linke-Genossin von Jürgens im Landkreis Oder-Spree, belastete ihn am planmäßigen fünften Verhandlungstag im Betrugsprozess gegen den früheren Landtagsabgeordneten vor dem Amtsgericht Potsdam nicht. Sie berichtete vielmehr von regelmäßigen Treffen mit Jürgens – und wie politisch aktiv er vor Ort war. Es war die zweite Zeugin, die der Hauptbelastungszeugin Niels widersprochen hat.

Zudem sagte ein Mitarbeiter der Landtagsverwaltung aus. Nach Angaben der Verteidiger hat er bei der Frage nach der Schadenssumme von „Vorwürfen im Stadium der Vermutung“ gesprochen. Ob der Landtag möglicherweise unrechtmäßig gezahlte Zuschüsse an Jürgens für Fahrtkosten und die Miete einer Zweitwohnung zurückfordert, hänge vom Ausgang des Strafverfahrens ab.

Die Staatsanwaltschaft wirft Jürgens gewerbsmäßigen Betrug und Wahlbetrug bei der Kreistagswahl 2014 in Oder-Spree vor. Er soll nicht, wie beim Landtag angegeben, bis 2011 bei seinen Eltern in Erkner, dann in Beeskow gelebt haben. Vielmehr soll er in seinen Lebensmittelpunkt in Potsdam gehabt haben, wo er tatsächlich Zweitwohnungen hatte, zur Miete, später Wohneigentum. Die Schadensumme beläuft sich laut Anklage auf 87 000 Euro. Jürgens hat bereits 7400 Euro zurückgezahlt: Er hatte von 2009 bis 2011 Mietzuschuss für eine Wohnung erhalten, obwohl er bereits eine Eigentumswohnung bezogen hatte. Der Landtagsmitarbeiter erinnerte nun auch an die damals geltende, unklare Gesetzeslage. Demnach erhielten auch Abgeordnete mit Wohnsitz in Potsdam bereits die erste Stufe der Fahrtkosten: 169 Euro pro Monat. Bei Jürgens kämen also binnen zehn Jahren 20 000 Euro zusammen. Laut Verteidigung ist dieser Grundbezug noch in der von der Staatsanwaltschaft angeklagten Schadensumme enthalten und müsste davon abgezogen werden.

Am Dienstag hat das Gericht auch die weitere Beweisaufnahme abgesteckt, der Prozess, in dem gereizte Stimmung herrscht, wird sich entgegen der Planung bis in den Dezember ziehen. Für den nächsten Verhandlungstag in eineinhalb Wochen ist der Leitende Oberstaatsanwalt aus Frankfurt (Oder), Helmut Lange, als Zeuge geladen. Er hatte als Vize-Chef der Potsdamer Staatsanwaltschaft 2014 die Anzeige und die Aussage von Sabine Niels aufgenommen. Zuvor hatte sich Niels, damals Mitglied im Rechtsausschuss des Landtags, direkt Rat bei Generalstaatsanwalt Erardo C. Rautenberg geholt, weil eine von ihr erstellte anonyme Anzeige 2012 gegen Jürgens ins Leere lief. Als weiterer Zeuge soll jener Staatsanwalt gehört werden, der das erste Verfahren gegen Jürgens mangels Tatverdacht einstellte, weil die Frage nach dem Lebensmittelpunkt in solchen Fällen schwer justiziabel sei.

Das Gericht hat dann für den siebten Verhandlungstag im Dezember Polizeibeamte und einen früheren Mitarbeiter von Jürgens geladen. Es geht um die Hausdurchsuchung bei Jürgens, in Beeskow stießen die Ermittler in der spärlich eingerichteten Wohnung auf eine Lampe mit Zeitschaltuhr – angeblich um Anwesenheit vorzutäuschen. Sollten die Zeugen gehört werden, würde das Amtsgericht sich gegen einen Beschluss des Landgerichts stellen, dass die Durchsuchung für unrechtmäßig erklärt hatte. Die Staatsanwaltschaft drängt auch auf die Vernehmung der Familie von Jürgens – obwohl diese ein Zeugnisverweigerungsrecht hat. Jürgens’ Verteidiger Norman Lenz sagte, die Ermittler hätten vorher genügend Zeit gehabt, die Familie zu befragen. „Nun im Hauptverfahren sein engstes persönliches Umfeld vor Gericht zu zerren, ist unanständig“, so Lenz. „Es wurde nicht objektiv ermittelt, sondern es wird alles getan, um dem Angeklagten zu schaden.“

Deshalb wollen die Verteidiger auch die Akten zum Verfahren gegen den CDU-Landtagsabgeordneten Danny Eichelbaum in den Jürgens-Prozess einführen. Die Ermittlungen gegen Eichelbaum waren 2014 eingestellt worden. Er hatte drei Jahre lang zu Unrecht Fahrtzuschüsse von 20 000 Euro erhalten. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein, Eichelbaum zahlte jeweils 20 000 Euro Geldbuße und die Kosten an den Landtag zurück. Er ist damit nicht vorbestraft. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft hatte sich bei Eichelbaum der Tatverdacht bestätigt, einen Prozess hielt die Behörde damals aber nicht für nötig – auch weil die Kontrollpraxis im Landtag lax war. „Es geht nicht darum, Betrug zu rechtfertigen, sondern darum, dass die gleichen Maßstäbe angesetzt werden“, sagte Lenz. Alexander Fröhlich (mit dpa)

Alexander Fröhlich (mit dpa

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