ZUR PERSON: „Ministerpräsident in direkter Verantwortung“
In 20 Jahren werden auch Fehler gemacht Ex-Bildungsminister Steffen Reiche (SPD) hielt jüngst auf GEW-Festakt eine Rede, die für Debatten sorgt.
Stand:
Lange hat er geschwiegen, Steffen Reiche, bis 2004 Bildungsminister in Brandenburg, weil er Rücksicht auf seinen Nachfolger nahm: Doch auf der Festveranstaltung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) „20 Jahre GEW“ hielt Reiche jüngst als Hauptredner eine Festrede, die wegen ihrer Brisanz weiterhin für Gesprächsstoff bei Experten, Politikern und in der Bildungsverwaltung des Landes sorgt. Reiche setzt sich schonungslos mit früheren, aber auch aktuellen Versäumnissen in der Bildungspolitik Brandenburgs auseinander, kritisiert Defizite von Rot-Rot – aber auch seine Partei. Die PNN dokumentieren die Rede.
Weltkrise ist Bildungskrise
Noch nie war Bildung so wertvoll wie heute. Thomas Friedman hat in seinem Buch „Die Welt ist flach“ geschrieben: „Uns ist früher gesagt worden, esst auf, denn die Kinder in China und Indien hungern. Wir müssen unseren Kindern heute sagen, lernt, denn die Kinder in China und Indien haben Hunger auf eure Arbeitsplätze.“ Die größte Krise, die wir haben, die Weltwährungs- und Finanzkrise ist im Kern eine Bildungskrise. Denn die politische Führung in den USA hat unter Präsident Reagan eine Grundsatzentscheidung getroffen. Für eine immer größere Gruppe in den Staaten gab es keine Entwicklung mehr, sie hatten keinen Anteil mehr am Wachstum des Wohlstandes und somit waren sie abgekoppelt vom American way of life. Man hätte mit großen Programmen ihre Bildung verbessern können. Aber der Weg schien zu lang und zu schwierig. Man hat sich für den einfacheren entschieden, nämlich ihnen billige Kredite anzubieten, damit sie vergaßen, dass ihre Einkommenssituation stagniert. Statt an der Bildungsschraube zu drehen, wurde an der Kreditschraube gedreht. Ruhigstellen statt Bilden. Und so wurde ihre Währung zu unserem Problem. Denn sie bedruckten lebloses Papier mit den Gesichtern ihrer toten Präsidenten und kauften damit weltweit ein. Selten zuvor war eine Wirtschaftskrise so eng mit einer Bildungskrise verbunden wie in diesem Fall. „Panem et circensem“, Brot und Spiele statt guter Bildung für alle, hat zum Untergang des Römischen Weltreiches beigetragen, jetzt reißt die falsche Prioritätensetzung – mehr Kredite statt mehr Bildung – eine ganze Weltgesellschaft in den Abgrund, die Verzweifelten Staaten von Amerika vornan.
Reformation und Bildung für alle
„Bildung für alle“ ist die Voraussetzung für Freiheit und Demokratie. Insofern ist die Reformation, die wir jüngst wieder gefeiert haben, ein genaues Gegenstück. Nicht Freiheit statt Bildung, sondern Freiheit durch Bildung. Die erste deutsche Revolution, die Reformation, war eben beides. Freiheitsbewegung und Bildungsbewegung. Keine Revolution hat in dieser Weise die bestehende Welt aus den Angeln gehoben wie die Reformation. Denn mit ihr begann die Neuzeit Und in der dadurch entstandenen Geisteshaltung hat Eberhard von Rochow 1776 in seinem kleinen Ort Reckahn, in der Nähe der Stadt Brandenburg eine der ersten Dorfschulen für alle weltweit gegründet. Und hat das wohl erste Schulbuch „Der Kinderfreund“ herausgegeben, was in weniger als 20 Jahren in über 200 Auflagen und über einer Million Exemplaren erschien. Bildung made in Brandenburg.
Fehlentscheidungen im Land nach 1990
In 20 Jahren hat man Erfolge, aber es werden auch Fehler gemacht. Als ich 1990 Manfred Stolpe bat, unser Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten zu werden, nahm er mir das Versprechen ab, in sein Kabinett einzutreten. Ich ahnte, dass das auf das Bildungsressort zulaufen könnte, sagte aber tapfer ja. Als 12 Stunden vor der Unterschrift unter den auf 3 Parteitagen beschlossenen Koalitionsvertrag Matthias Platzeck als Vertreter von Bündnis 90 zu uns kam und sagte, dass das Bündnis 90 nun doch nicht das Landwirtschaftsressort, sondern das Bildungsressort haben wolle, war Stolpe entsetzt. Ich habe ihn nie wieder so außer sich erlebt.
Abschaffung der POS war Kardinalfehler
Heute wissen wir, und wir hätten anders als damals auch die Mehrheit in der Bevölkerung hinter uns: Es wäre besser gewesen, die Polytechnische Oberschule in ihrer Struktur zu bewahren. Damals aber wollte eine breite Mehrheit, nicht nur im Landtag, zum Westgeld auch das Westschulsystem. Dass man auch mit der Allgemeinbildenden Schule der zehnfachen Menge an Schülern den Weg zu einem guten Abitur öffnen könnte, verhallte damals ungehört. Dieser Kardinalfehler hat viele Irrwege und Korrekturen nach sich gezogen. Da wir schon dabei waren, alles grundlegend umzukrempeln, haben wir das System Schule, die Lehrer, Eltern und Schüler auch an anderen Stellen überfordert. Wir wollten zuviel in zu kurzer Zeit.
2000 neue Lehrer bis 2014
Um die im Koalitionsvertrag verabredete Schüler-Lehrer-Relation bei 15,4 zu halten, ist – da braucht man keine großen mathematischen Kenntnisse – die Neueinstellung von 2000 Lehrern in dieser Legislaturperiode nötig. Im jetzt in der Diskussion befindlichen Haushaltsplan aber findet sich nur das Ziel, 1250 Lehrer neu einzustellen. Wie soll diese Lücke geschlossen werden? Wo sollen die 750 Lehrer herkommen? Von daher verstehe ich die Sorge der GEW und die Angst der Lehrer, denn sie fragen sich: „Entspricht das nur zufällig der Erhöhung der Wochenarbeitszeit der Lehrer um eine Stunde, die möglich wäre wenn der Tarifvertrag 2013 ausläuft?“ Also entweder die 750 Neueinstellungen erfolgen zusätzlich zu den geplanten 1250 oder die Koalition hält sich eben eine Hintertür offen. Es liegt an der Koalition, diese Frage zu klären und endlich Klarheit zu schaffen.
Alles nach Speers Rücktritt richten
Das gebetsmühlenhafte Behaupten von Dingen zur Beruhigung haben wir doch vor 20 Jahren eigentlich gemeinsam beendet. Der Bildungspolitiker, der den Koalitionsvertrag an dieser Stelle mit der Linken ausgehandelt hat, ist vor einigen Wochen zurückgetreten, Rainer Speer. Vielleicht kann es die Reihe hinter ihm jetzt ja nun endlich richten. Eines ist klar, wer hier Wind sät, wird Sturm ernten.
Keine Gratis-Kitas – verpasste Chance
Einer der größten Fehler, der in den 20 Jahren gemacht worden ist, war die Kürzung bei den Kita-Ausgaben. Ich konnte es damals nicht verhindern. Erst einige Jahre später ist, auch durch unser gemeinsames Engagement, das, was wir damals schon erkannt hatten, Allgemeingut geworden. Die, die einst ihre Hand gehoben haben für die Kürzungen, stimmten nun für eine langsame Rolle rückwärts. Meine Auseinandersetzung mit führenden Leuten meiner Partei damals war so nervenaufreibend und bitter, dass sich die Wege auch deshalb dann 2004 trennten. Eine Relation von 1:12 ist eine Verbesserung, aber wenn man bedenkt, dass Berlin eine Relation von 1:9,5 hat und ein Kita gebührenfreies Jahr, ist deutlich, wie weit der Weg für uns noch ist. Ja, wir haben eine hohe Versorgungsquote, aber Quote und Qualität müssen in einer sinnvollen Balance bleiben. Nur viel hilft nicht viel. Die Forderung nach einer Gebührenfreiheit ist in Brandenburg von mir mit einigen Kollegen damals entwickelt worden, weil wir gesehen haben dass Kita genauso wichtig wie die gebührenfreie Schule ist. Sie wurde auch hier zuerst Parteitagsbeschluss einer Regierungspartei. Nur umgesetzt worden ist sie hier noch nicht. Eine weitere verpasste Chance.
Keine billige Abrechnung
Als neulich 20 Jahre Landtag gefeiert wurde, hat Bischof Dröge in seiner Predigt der großen Festgemeinde in der Nikolaikirche mit Worten des Apostels Paulus mahnend für die nächsten Jahre gesagt: Vertraut weiter auf die Kraft des aufrichtigen Wortes. Man muss befürchten, dass er weiß, wie wichtig diese Mahnung für das Land ist. Ich will deshalb einiges kritisch anmerken, wohl wissend, dass mancher das gern als billige Abrechnung bezeichnen wird, aber damit eben nur bestätigt, was ich sagen will. Dass wir noch Probleme haben, zeigt die letzte Pisa-Untersuchung deutlicher als die vorletzte. Ich frage deshalb: Wo ist das Problem? Wo ist nicht weitergearbeitet worden?
Es fehlt offene Diskussion
Um Probleme zu lösen, braucht es eine offene Diskussion, keine verordneten Lösungen. Der Verlust unserer Diskussionskultur wird von immer mehr Menschen beklagt. Da es nicht die eine richtige Lösung gibt, muss man gemeinsam nach Lösungen suchen. Aber wenn Abgeordnete sich nicht mehr mitgenommen fühlen, wenn immer mehr noch agile Mitarbeiter im Ministerium resigniert in die Altersteilzeit fliehen, wenn Lehrkräfte in den Schulen sich nicht mehr in diesem Prozess wahrgenommen fühlen und es einen immer lauter beklagten Abbruch an Motivation gibt, dann sind Warnsignale gesetzt. Und darüber muss gesprochen werden – mit aufrichtigen Worten.
Schülerbafög ist ein Irrweg
Symbolische Politik ist nicht grundsätzlich verwerflich. Politik braucht neben Lösungen auch Symbole. Aber wenn eigentlich fast alle bildungspolitisch Engagierten und Kundigen sagen, – und hier vertrete ich eine andere Position als meine Partei – das Schülerbafög ist ein Irrtum, dieser Weg ist falsch, er kostet nur und bringt nichts, dann sollte ein eingeschlagener Weg auch korrigiert werden. Oder braucht man dieses Symbol, um Stillstand zu bemänteln und Aktion vorzutäuschen? Gerade im Bildungssystem kann man nicht davon sprechen, dass sich Probleme auswachsen werden. Es geht eben um mehr und bessere Bildung, damit Probleme bewältigt werden und nicht in Rente gehen.
Linke schweigen für Linsengericht
Geld ist und bleibt in Brandenburg knapp. Aber guter Rat muss nicht teuer sein. Er kostet aber ein offenes freies Wort und Gespräch. Wenn auch das knapp und selten wird, dann entstehen neue Probleme, anstatt das alte gelöst werden. Was hat die Linke in ihrer Oppositionszeit nicht alles, oft zu Recht, gefordert. Wie oft lagen mir die linken Bildungspolitiker mahnend in den Ohren. Aber was ist Neues in dieser Koalition entstanden, was diese Koalition rechtfertigt und das Schweigen der Akteure, die gestern in der Opposition so viel forderten. Mancher hat vor 20 Jahren zu wenig gewagt, um weiter regieren zu können. Und heute wird schon wieder zu wenig gesagt, um das Linsengericht des Mitregierens.
Verantwortlich ist Ministerpräsident
Der Ministerpräsident hat die Bildungspolitik zur Kernfrage seiner Regierung erklärt. Zu Recht. In keinem anderen Gebiet haben die Länder eine so hohe und direkte Verantwortung. Dann aber steht er auch in der direkten Verantwortung. Fehlende Erfolge, wie erst jüngst in der Pisaerhebung gezeigt und eine wachsende resignative Stimmung in den Schulen und Kernbereichen der Landesverwaltung zeigen, dass die Arbeit dieser Regierung, ich will es freundlich sagen, vor schwierigen Zeiten steht.
Steffen Reiche, geboren am 27. Juni 1960, war von 1994 bis 1999 Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur und von 1999 bis 2004 Minister für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg. Danach war er bis 2009 Abgeordneter im Bundestag. Er hatte nach dem Abitur 1979 Theologie studiert und war dann Pfarrer. Im Herbst 1989 gehörte er
zu den Mitbegründern der Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP). Von 1990 bis 2000 war er Landesvorsitzender der Brandenburger SPD. Seit dem Ausscheiden aus dem Bundestag im Jahr 2009 arbeitet Reiche wieder als Pfarrer in Berlin. Er ist verheiratet und hat drei Töchter. Er ist ein Befürworter einer Fusion von Brandenburg und Berlin. thm
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