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POSITION: Neue Leitern bauen

Der Warnruf aus der Rütli-Schule weist auf eine neue soziale Frage. Von Günter Baaske

Mit Stammtischparolen reagieren Konservative dieser Tage auf den Hilferuf aus der Neuköllner Rütli-Schule. Jedoch: Mit Ausweisen und Einsperren löst man keine Probleme, sondern schlägt bestenfalls die Schlachten der Vergangenheit. Einige in der Union machen es sich schön einfach. Die vielschichtigen sozialen Probleme in unseren Schulen reduzieren sie auf Fragen der Sicherheitspolitik und des Ausländerrechts. Dem gesellschaftlichen Frieden dient das nicht. Anstatt hilflos Symptome zu behandeln, sollten wir die Ursachen angehen – und nach Lösungen zu suchen, die wirklich helfen.

Der Kern des Problems sind nämlich nicht Ausländer oder Kinder von Zuwanderern in unseren Großstädten. Tatsächlich haben in unserem Land Menschen vielerorts die Hoffnung aufgegeben – Hoffung auf Arbeit, auf Teilhabe an der Gesellschaft, auf Zukunft. Diese Menschen sind arbeitslos oder in einem Job, der ihnen gerade so über die Runden hilft. Sie fühlen sich ohnmächtig und ausgeliefert. Am öffentlichen Leben nehmen sie kaum noch teil. Die Gesellschaft, auch die Demokratie, ist ihnen egal. In Deutschland ist ein neues „soziales Unten“ entstanden. Pessimismus und Frustration machen sich breit. Nichts ist nötiger, als die Sorgen und Bedürfnisse dieser Menschen Ernst zu nehmen.

In Brandenburg zum Beispiel mit seinem verschwindend geringen Ausländeranteil kommen rund 25 Prozent der unter-15Jährigen aus Haushalten, die von der sozialen Grundsicherung – Hartz IV – leben. Viele von ihnen kämpfen um gesellschaftliche Anerkennung. Jedes von diesen Kindern brauchen wir. Deshalb müssen wir sie besonders fördern. Ihnen müssen wir gleiche Startchancen am Lebensanfang bieten und eine Perspektive aufzeigen. Keines von ihnen dürfen wir in einem Kreislauf von Hoffnungslosigkeit, Frustration und Arbeitslosigkeit zurücklassen.

Wie können wir das schaffen? „Neue Leitern“ müssen her, die wir an zentralen Stellen in unsere Gesellschaft einziehen. Im Mittelpunkt steht dabei das Bildungssystem. In keinem anderen OECD-Land hängt der Bildungserfolg so stark von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland. Geld fließt genug, doch wir geben es an den falschen Stellen aus.

Bei den Kitas fängt es an, sie müssen alle Kinder noch intensiver auf die Grundschule vorbereiten, insbesondere die deutsche Sprache besser vermitteln. Ich meine damit ausdrücklich auch die deutschen Kinder! Für die Schule gilt dann: Langes gemeinsames Lernen und individuelle Förderung spornt Schüler an, erhöht ihre soziale Kompetenz und ihre Leistungen. Es ist ja kein Zufall, dass die sozialen Konflikte in einer Hauptschule aufgetreten sind. Hier versammeln sich die Schwächsten. Gemeinsam werden sie vielleicht aggressiver, aber sicher nicht leistungsstärker. Nicht selten verkommt die Hauptschule zur „Restschule“. Deshalb muss sie ein Auslaufmodell sein.

Stattdessen brauchen wir Schulen, in denen spät selektiert wird und die niemanden abstempeln. Es muss problemlos möglich sein, die Schulform zu wechseln. Kinder aus sozial schwachen Haushalten sind ja keineswegs weniger begabt als andere. Nur brauchen ihre Talente eine individuelle Förderung. Lehrer und Schulpsychologen müssen die Zeit haben, auf jedes einzelne Kind einzugehen.

Natürlich sind in erster Linie die Eltern in der Pflicht. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass es Eltern gibt, die dieser Pflicht nicht nachkommen können oder wollen.

Deshalb brauchen wir neue Leitern für Familien. Eltern müssen die Familie tatsächlich wieder als Glück begreifen können. Deshalb ist ein System von Familienberatung und –betreuung wichtig zur Unterstützung von Kindern und Eltern. In Lauchhammer beispielsweise gibt es ein neues Brandenburger Modell der integrierten Familienberatung mit medizinischer, sozialer und pädagogischer Betreuung schon von der Schwangerschaft an. Dieses Familienzentrum soll die Eltern unterstützen und Entwicklungsprobleme von Kindern frühzeitig erkennen helfen. Dieses Modellprojekt, in dem auch viele Freiwillige helfen, ist ein voller Erfolg. Eine Kultur des Mitmachens und des Zupackens ist in Lauchhammer entstanden. „Um ein Kind zu erziehen, braucht man ein ganzes Dorf“, lautet ein afrikanisches Sprichwort. Genauso ist es.

Gleiche Lebenschancen für alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft – genau darum geht es. Niemand darf benachteiligt sein, nur weil er aus dem „falschen Stadtteil“, der „falschen Region“ oder dem „falschen Elternhaus“ kommt. Genau deshalb müssen wir neue Brücken in das Milieu der sozial Schwachen schlagen. Eine aktivierende Bildungs- und Familienpolitik ist dabei das Wichtigste, was man Menschen an der gesellschaftlichen Peripherie bieten kann – nicht Repression.

Günter Baaske ist Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg.

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