NACH DEM UNWETTER Die Bilanz der Orkannacht: Schadensfall Hauptbahnhof
Wind riss riesige Stahlträger aus der Fassade. Feuerwehr vermutet Baumängel und spricht von Skandal
Stand:
Nur mit viel Glück entging die Bahn in der Nacht zu Freitag am Hauptbahnhof einer Katastrophe. Beim Absturz eines Stahlträgers aus 40 Meter Höhe auf eine Freitreppe wurde niemand verletzt, weil keine Passanten an der Unglücksstelle standen. Die anschließende Sperrung des Hauptbahnhofs führte gestern allerdings zu einem Chaos bei der Bahn. Der erst im Mai 2006 eröffnete Bahnhof blieb bis kurz nach 13 Uhr völlig abgeriegelt.
Auf der oberirdischen Ost-West-Stadtbahn war der Verkehr komplett unterbrochen, durch die unterirdische Nord-Süd-Halle fuhren die Züge ohne Halt durch. Es kam zu zahlreichen Umleitungen und Zugausfällen. Warum der Träger abstürzte, ist unklar. „Der Absturz war das Letzte, womit wir gerechnet haben“, sagte Bahnchef Hartmut Mehdorn gestern vor Ort.
„So etwas gibt es eigentlich gar nicht“, sagte Adolf Pütz von der Bahn AG. Der Architekt hatte den Bau mit überwacht. Gelöst hatte sich eine der obersten Querstreben am sogenannten Bügelbau, der die gläserne Halle überspannt. Beim Absturz aus rund 40 Meter Höhe auf eine Freitreppe wurde auch der darunter liegende Träger aus der Halterung gerissen. Er landete auf dem nächsten Träger, der dadurch ebenfalls beschädigt wurde, aber in seiner Halterung blieb.
Diese Querstreben seien nur ein architektonisches Element, sagte Pütz. Eine tragende Funktion haben sie nicht. Deshalb habe auch keine Einsturzgefahr bestanden. Architekt Meinhard von Gerkan hat eine Konstruktion entworfen, wonach viele Querstreben nur auf einer Halterung aufliegen. Sie sind nicht verschraubt oder verschweißt, sondern „schwimmend“ gelagert. Über dem Glasdach sind sie fest montiert. Von Gerkan war gestern keine Stellungnahme zu erhalten.
Alle Richtlinien seien eingehalten worden, sagte Pütz weiter. Die fast zwei Tonnen schweren und 8,40 Meter langen Streben müssten durch ihr Eigengewicht halten. Ob die Strebe durch den Sturm angehoben und dann abgestürzt war, oder ob die gesamte Stützenkonstruktion durch den Orkan so geschwankt hat, dass sich die nur aufliegende Strebe gelöst hat, wird jetzt untersucht. Einen Montagefehler halten Experten für unwahrscheinlich.
Prüfungen durch Statiker und das Eisenbahn-Bundesamt am frühen Morgen hätten ergeben, dass die anderen Streben sicher aufliegen, sagte Pütz weiter. Trotzdem sollen sie jetzt zusätzlich verankert werden. Insgesamt gibt es über 100 Streben am Bahnhof, die so aufliegen.
Die Feuerwehr hatte in der Nacht den zunächst geplanten Einsatz des Höhenrettungsdienstes abgesagt, der den zweiten, verkeilt in der Fassade hängenden Träger sichern sollte. Um die Feuerwehrleute nicht zu gefährden, wurde lieber in Kauf genommen, dass auch dieser Stahlträger noch in die Tiefe stürzt. Deswegen ließ die Bundespolizei das komplette Gebäude räumen und errichtete einen Sperrkreis von 50 Metern um den Bahnhof. Die etwa 200 Reisenden, die sich zu dieser Zeit noch im Bahnhof aufhielten, mussten auf der Invalidenstraße warten. Einige kamen in der Stadtmission unter, andere konnten mit Bussen der BVG wegfahren.
Feuerwehrleute machten in der Nacht ihrem Ärger Luft: „Es ist ein Skandal, dass bei einem neuen Gebäude Stücke herausbrechen“. Auch Feuerwehrchef Wilfried Gräfling, der den Einsatz in der Nacht geleitet hatte, sprach gestern von einem „dollen Ding“. Dem Tagesspiegel sagte er, dass der Absturz des Trägers „Baumängel vermuten lasse“. Fachleute müssten prüfen, ob ein „systematischer Fehler“ vorliege. Gräfling erinnerte an die Pannenserie im Kaufhaus Lafayette: Dort waren mehrmals Scheiben aus der Fassade gefallen, bis eine Prüfung ergab, dass die Halterungen aller Scheiben ausgetauscht werden müssen. Gräfling lobte, „dass die Bahn das offensichtlich ernst nimmt“.
Die Bundestagsfraktion der Grünen kündigte an, der Verkehrsausschuss werde sich erneut mit dem Hauptbahnhof beschäftigen. Gegebenenfalls müsse es personelle Konsequenzen geben.
Niemand hat bei den Stahlträgern am Hauptbahnhof damit gerechnet, dass diese zwar tonnenschweren, aber dennoch nur aufliegenden Teile durch den Wind verschoben oder angehoben werden könnten und anschließend herunterstürzen würden. Geprüft hat diesen konkreten Fall aber offenbar auch niemand.
Das Eisenbahnbundesamt hat beim Hauptbahnhof in über 100 Einzelfällen seine Zustimmung erteilt – also genehmigt, was normalerweise nicht in ihren Richtlinien steht. „Die Stadtentwicklungsverwaltung hat den Prüfingenieur bestellt“, erklärt deren Spre4cherin Petra Rohland. Der Prüfingenieur ist so etwas wie eine unabhängige Instanz zu dem Architekten, zum Bauherrn und zum Statiker. Aber der Prüfstatiker befasst sich eben nicht mit den nicht-tragenden Elementen der Fassade.
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