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Von Juliane Sommer: Schwedt arbeitet Geschichte des DDR-Armeeknasts auf

Lesung der Uckermärkischen Bühnen in ehemaliger „Disziplinareinheit“ der NVA

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Schwedt/Oder - Der Ort ist für eine Lesung ungewöhnlich: Ein Gefängnisflur, spärlich beleuchtet, links und rechts Zellentüren, die Gucklöcher geöffnet. Eine Zelle ist ganz offen und wird von Theaterscheinwerfern beleuchtet. Es ist ein langer, schmaler Raum mit einer Holzpritsche. Hier, im Arresttrakt der ehemaligen „Disziplinareinheit Schwedt“ der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR, erinnerten die Uckermärkischen Bühnen Schwedt (ubs) am Mittwochabend mit einer Lesung an die Geschichte des Schwedter Armeegefängnisses.

Intendant Reinhard Simon liest gemeinsam mit Schauspieldirektor Gösta Knothe und der Chefdramaturgin Heike Schmidt aus Dienstanweisungen, Befehlen, Erinnerungsprotokollen von Soldaten sowie Passagen aus Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“, in dem die Hauptfigur auch in den Schwedter NVA-Strafvollzug kommt. Der schmale Flur ist gut gefüllt, zusätzliche Stühle müssen für das Publikum herbeigeschafft werden. Das Interesse an diesem Aspekt der Schwedter Geschichte ist groß. In dieser dichten Atmosphäre lassen die ubs-Künstler am 7. Oktober – an diesem Tag vor genau 60 Jahren war die DDR gegründet worden – die untergegangene Republik, deren Armee sowie die Gängelung und Angst der Soldaten wieder aufleben.

„Die Zahl 133 war auf jedem Maßband eines Entlassungskandidaten der NVA, mit dem die noch abzudienenden Tage gezählt wurden, schwarz umrandet“, berichtet Knothe mit Verweis auf die Postleitzahl von Schwedt, die zu DDR-Zeiten 1330 lautete. „Diese Zahl stand für den Armeeknast, die Angst davor herrschte in allen Kasernen der DDR“, sagt Knothe. Denn nach Schwedt kam nicht nur, wer sich strafbar gemacht hatte. Dorthin wurden auch Soldaten geschickt, die den Staat beleidigt oder sich gegen die Willkür von Vorgesetzten gewehrt hatten.

Der Tagesablauf im Gefängnis war unmenschlich: 4.00 Uhr Wecken, acht Stunden Arbeit, fünf Stunden militärische Ausbildung unter anderem mit Anlegen des Schutzanzugs und Militärsport. Der Knast hatte eine eigene Sturmbahn. „Wer von dort wiederkam, hatte das Lachen verlernt, war um Jahre gealtert und erschrak bei jedem unerwarteten Geräusch“, zitiert Knothe aus Erinnerungsberichten von Soldaten.

Das Gelände des 1968 gegründeten Gefängnisses, das 1982 noch um die sogenannte Disziplinareinheit erweitert wurde, in der renitente Armeeangehörige auch ohne Gerichtsurteil für eine gewisse Zeit weggesperrt werden konnten, liegt am Rande der Stadt in der Nähe der Schwedter PCK-Raffinerie. Die ersten Häftlinge wurden in Baracken untergebracht, die in der Aufbauphase des PCK als Wohnunterkünfte für die Bauarbeiter gedient hatten.

Heute erinnern auf den ersten Blick nur noch das Stabsgebäude und das Haus der „Disziplinareinheit“ mit Unterkünften und Zellentrakt an das gefürchtete Gefängnis. „Die Baracken sind abgerissen, eine einzige ist übriggeblieben, sie ist geborsten, die Bäume wachsen aus ihr heraus. Die Natur erobert sich das Gelände wieder zurück“, sagt Knothe. „Das, was war, ist dem Vergessen anheim gefallen.“ Doch gegen dieses Vergessen regt sich Widerstand: Das brandenburgische Kulturministerium schlug vor wenigen Monaten vor, aus dem Ort eine Erinnerungsstätte zu machen. Das wiederum lehnte die Stadtverwaltung Schwedt ab. „Und zwar, weil diese Erinnerung und die damit verbundenen Kosten auf die Stadt und auf Vereine abgewälzt werden sollten. Der Armeeknast war aber keine Angelegenheit der Stadt Schwedt, sondern der DDR. Eine Erinnerungsstätte wäre hier also eine nationale Angelegenheit“, sagt Stadtsprecherin Corinna Müller. Die Stadt will aber gemeinsam mit ihrem Museum die Geschichte des Gefängnisses aufarbeiten. Erinnerungsarbeit betreiben mittlerweile auch ehemalige Strafgefangene. Im Juni gab es in Schwedt ein erstes Treffen. Das Schwedter Museum pflegt regelmäßigen Kontakt zu der losen Gruppe von ehemaligen Insassen. Zudem fänden sich noch jede Menge Spuren des Armeeknastes in Schwedt, sagt Museumsleiterin Anke Grodon. „Die Bewacher und Verwaltungsmitarbeiter haben in Schwedt gewohnt. Es gab sogar eine Patenschaft mit einer Schulklasse“, berichtet sie. Und der Besitzer eines der Autohäuser, die nach der Wende wie Pilze aus dem Boden schossen, war zuvor ein hoher Offizier in der Strafvollzugsanstalt der NVA in Schwedt.

militaergefaengnis-schwedt.de

Juliane Sommer

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