Brandenburg: „Vorher reagieren“
Regina Müller hat einen anderen Ansatz bei der Unterbringung schwieriger Jugendlicher als die Haasenburg – die Zielgruppe ist ähnlich
Stand:
Sie betreuen in Ihren Projektstellen auch in Brandenburg ähnliche Fälle wie die umstrittenen Heime der Haasenburg – mit einem anderen Ansatz. Wie sieht der aus?
Die Jugendlichen leben bei uns nicht in Gruppen, sondern werden einzeln untergebracht bei dem Betreuer zu Hause, in dessen Privatwohnung. Dabei schauen wir vorher, wer zu wem passt, wer mit dem speziellen Problem, das der Jugendliche hat, am besten umgehen kann. Einen fußballvernarrten Rechtsextremen werden wir nicht zu jemanden schicken, der mit Fußball nichts anfangen kann. Andersherum kann das sehr gut funktionieren: Wir hatten mal einen Jugendlichen, der viel gezündelt hat und der zu einem Betreuer kam, der in einem Holzhaus wohnte. Dort hat er nicht einmal mehr geraucht.
Was ist die Idee dahinter?
Alle Auffälligkeiten, das unangemessene Verhalten ist für die Jugendlichen, die zu uns kommen, überlebenswichtig. Nehmen Sie etwa Kinder, die von ihren Eltern missbraucht wurden – bei denen die grundlegendsten Bedürfnisse nach Fürsorge nicht befriedigt wurden – die lieben ihre Eltern oft trotzdem abgöttisch. Deshalb setzten wir auf räumliche Distanz, wir verpflanzen die Kinder. In ihrem alten Umfeld würden sie immer wieder in die alten Muster zurückfallen.
Was spricht gegen eine Unterbringung zusammen mit anderen Jugendlichen?
Eine Gruppe bedeutet immer immensen Druck, das weiß jeder, der mal mit zehn Freunden im Urlaub war – und das sind Menschen, die man sich selbst aussucht! In Gruppen entstehen immer Dynamiken nach dem Prinzip Täter, Opfer, Mitläufer.
Welche Vorgeschichte haben die Jugendlichen, die zu Ihnen kommen?
Viele haben mindestens drei bis fünf verschiedene Maßnahmen hinter sich, sind straffällig geworden wegen Diebstahl und Körperverletzung, haben Drogenkontakte oder Erfahrung mit Prostitution – teilweise mit zwölf Jahren!
Gibt es auch Fälle, die Sie ablehnen?
Ja. Wir nehmen nur auf, wenn das Kind sagt: Ich will das. Keiner ist gegen seinen Willen bei uns, die Türen bei den Betreuern nicht verschlossen. Es gibt aber Fälle, die auf richterliche Weisung zu uns kommen – die entscheiden sich dann nicht für uns – sondern gegen den Jugendarrest. Aber das ist nur ein sehr geringer Teil. In vielen Fällen aber sind wir der Ansprechpartner, wenn die Jugendämter für das Kind in der Szene der Einrichtungen kaum noch jemanden finden, der sie aufnehmen will, wenn die Kinder etwa ein absolut zerstörerisches, selbstverletzendes Verhalten an den Tag legen.
Solche Fälle gab es auch in der Haasenburg – dort wurden dann sogenannte Anti-Aggressionsmaßnahmen angewandt. Gibt es die bei Ihnen auch?
Wir versuchen schon vorher zu reagieren, zu merken, wann der Stress für ein Kind zu groß wird – und es dann nicht noch weiter zu fordern. Bei der Eins-zu- eins-Betreuung ist das möglich, weil Vertrauen aufgebaut wird. Wenn jemand wirklich ausrastet, muss man natürlich reagieren, wir sagen dann nicht – mach ruhig, wenn dir danach ist – versuchen aber, gelassen zu bleiben. Wenn nichts hilft, muss man eben mal die Polizei oder den psychiatrischen Notdienst rufen. Aber wir sind alle Menschen. Ich bin heilfroh, dass bei uns noch nichts passiert ist.
In der Haasenburg gab es einen Fall, in dem sich ein Mädchen immer wieder selbst gestoßen hat und deshalb dauerhaft Helm und Knieschützer tragen musste ...
Solche hochsuizidalen Fälle würden wir vermutlich nicht aufnehmen – dafür gibt es bessere Einrichtungen, etwa die Jugendpsychiatrie. Jugendliche, die auf richterliche Weisung aufgrund einer psychiatrischen Diagnose kommen, nehmen wir normalerweise nicht, solche mit einer kriminellen Vorgeschichte trauen wir uns aber schon zu.
Wer kontrolliert die Arbeit Ihrer Betreuer?
Sobald es eine Betriebserlaubnis vom Landesjugendamt gibt, kümmern sich die überweisenden Jugendämter. Die kommen im Schnitt zweimal im Jahr zu sogenannten Hilfeplangesprächen zu den Betreuern. Die Landesjugendämter bleiben Ansprechpartner in akuten Krisen
Wer bezahlt diese Eins-zu-eins-Betreuung wie Sie sie anbieten?
Das Jugendamt. Wir sind sicher im oberen Bereich, was die Kosten angeht. In der intensiven Phase können das um die 200 Euro am Tag sein. Ob wir den Fall bekommen, darüber entscheidet das jeweils zuständige Jugendamt – die einzelnen Träger reichen eine Art Drehbuch für den Fall ein, wie bei einer Ausschreibung.
Sie verfolgen einen offenen Ansatz – soll man geschlossene Heime abschaffen?
Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, Zugang zu einem Menschen zu bekommen – dann brauche ich auch die, ihn festzusetzen. Das kann auch eine geschlossene Einrichtung sein. Wir hatten drei Fälle, die zu uns kamen, nachdem sie aus geschlossenen Heimen geflogen waren – die haben wir bei Betreuern in Australien untergebracht. So weit weg von zu Hause, in dieser unendlichen Weite – das ist auch eine Form von geschlossener Unterbringung – aber es hat geholfen.
Das Gespräch führte Ariane Lemme
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