SERIE: Wahnsinn Wende Abenteuer Berlin
Als die Mauer gefallen ist, schmilzt die Zeit zusammen und dehnt sich zugleich aus. Die Stadt gerät in einen Wirbel der Anspannungen und Widersprüche. Berlin erlebt plötzlich eine neue Stunde Null – und bei den Menschen in Ost und West entstauen sich die Gefühle bei Pirschgängen in der nahen Fremde
Stand:
IN DER MITTE EIN TOR
Heute ist es Touristentreffpunkt und Partyplatz in einem: Berlin versammelt sich und die ganze Welt gern am Brandenburger Tor. Doch vor der Zeitenwende 1989 war dies hier totes Gelände. Da schloss die Grenze das Wahrzeichen der Stadt ein, von Ost-Berliner Seite durften sich Besucher nur in gehöriger Entfernung nähern (das Bild links oben stammt von 1976). Und im Westen verstellte die Mauer den Blick auf das Tor. Erst mit dem Mauerfall offenbarte sich die Lücke, welche die Grenze mitten durch die Stadt hier in ihrer Mitte gerissen hatte. Offen zeigte sich die gewaltige Brache zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz, zwischen Tiergarten und DDR-Plattenbaufassaden – mit Mauer, Sperrzone und der Stadtkulisse im Hintergrund. Ein riesiger Krater an der wieder zum Zentrum gewordenen Grenzzone der beiden Berlins, der sichtbar machte, was für ein ungeheuerlicher Vorgang sich hier ereignet hatte. Der Offenbarungseid der Geschichte der Teilung. Eine deutsche, eine mitteleuropäische Geschichte.
Die Öffnung der Mauer beendet die Teilung Berlins, aber sie stößt die Stadt auch vehement auf deren praktische Folgen. Nun tritt vor aller Augen, dass dieses halbe Jahrhundert für Berlin etwas war wie die mittelalterliche Strafe des Räderns, bei der den Delinquenten bei lebendigem Leibe die Glieder zerschlagen wurden. Straßen und Schienen enden am Niemandsland der Grenzzone und durchsetzen die Stadt in ihrer Mitte mit Sackgassen, unterbrochenen Gleisen und verwilderten Flächen, die einst betriebsame Plätze waren.
In der Mauerzone erinnern Ende 1989 oft nur noch die Kanten der Bürgersteige daran, wie früher hier die Straßen verliefen. An manchen Stellen sind selbst die alten Fahrbahnverläufe kaum mehr zu erkennen – als am Tag nach der Maueröffnung am Potsdamer Platz die Verbindungsstraße zwischen Osten und Westen wieder hergerichtet werden soll, droht kurzfristig das Missgeschick, dass beide Teilstücke sich verfehlen. Aus dem Geflecht von S- und U-Bahn-Linien, die früher die Stadt in alle Richtungen verbanden, sind zwei getrennte, voneinander abgekoppelte Verkehrsnetze geworden, mit zugemauerten Geisterbahnhöfen an den Stellen, an denen die West-Berliner U-Bahn-Linien den Osten unterqueren, und einem hoch gesicherten, fuchsbauartigen ost-westlichen Knotenpunkt in der Mitte, dem Bahnhof Friedrichstraße.
Von den Telefonverbindungen der Millionenstadt ist nur ein Minimalbestand geblieben – 460 von West nach Ost, 113 aus der DDR nach Westen –, zugeordnet unterschiedlichen Verteilernetzen, was ihre Wiederherstellung zusätzlich erschweren wird. Selbst die Versorgungsleitungen unter der Erde sind gekappt, die Abwasserkanäle durch Sperrgitter gegen Fluchtversuche abgesichert.
Das macht die Wiederbegegnung der beiden Halbstädte zum Start einer Expedition in eine neue Stunde Null. Was zusammenwachsen soll, muss buchstäblich erst einmal wieder Wege zueinander finden. Die ersten Marksteine dafür bilden die Grenzübergänge – aus dem halben Dutzend, die die DDR am Tag nach dem Mauerfall geöffnet hat, sind nach einer knappen Woche 22 Übergänge geworden, und bis zum Dezember sind die beiden Teilstädte mit rund fünfzig Übergängen wieder notdürftig zusammengeflickt. Und obwohl die DDR-Grenzpolizisten nach dem euphorischen Nach-Maueröffnungswochenende ihre Kontrollen wieder aufnehmen, setzt eine stürmische Annäherung der beiden Teilstädte ein.
Premieren überall: Erste Gänge über die Grenzen, durch die Stadt und ins Umland, der Polizeipräsident von West-Berlin nach 41 Jahren zum ersten Mal wieder in dem alten Berliner Polizeipräsidium, das in Ost-Berlin liegt, erste Reichsbahnzüge aus DDR-Städten in einem West-Berliner Bahnhof seit den fünfziger Jahren, Gespräche unter Stadtplanern aus dem Osten und Westen. Die erste Begegnung der Stadtoberhäupter West und Ost in der Berliner Nachkriegsgeschichte wird angebahnt. Als sie zustande kommt, Anfang Dezember, wird sie vorsichtshalber – noch sind die Siegermächte die oberste Instanz in der Stadt – weder im Roten Rathaus noch im Rathaus Schöneberg anberaumt, sondern in einem Ost-Berliner Hotel; es trägt immerhin den Namen „Hotel Stadt Berlin“.
Zugleich gerät die Stadt in einen atemlosen Wirbel der Anspannungen und Widersprüche. Die Maueröffnung kehrt die beiden Teilstädte, die sich jahrzehntelang den Rücken zugewandt hatten, wieder zueinander und stellt sie entlang der Grenzlinie auf als surreal verfremdetes Szenarium – Fassaden und Brandmauern, Abbrüche und Leerflächen, zwischen den Städten, mitten in der Stadt, eine Peripherie nach innen. Noch einmal blitzen schemenhaft die kahlen, zerbrochenen Stadtlandschaften auf, mit denen der Maler Werner Held in den Nachkriegsjahren das zerbombte Berlin der Trümmerzeit festgehalten hat. An den Übergängen bilden sich Besucherschlangen, die sich wie Ameisenpfade nach hüben und drüben ziehen. Kolonnen von Trabis und Wartburgs bewegen sich langsam von Ost-Berlin und aus dem Umland in die Weststadt, 10 000 pro Wochentag, 15 000 bis 20 000 am Wochenende.
Es herrscht ein ziellos-zielbewusst dahinwogender Ausnahmezustand: Fassungslosigkeit und Verblüffung, Menschen- und Medienpulks, wo immer prominente Besucher auftauchen, um neue Übergänge zu besichtigen oder sich zu den Ereignissen zu erklären. Immer dabei der Regierende Bürgermeister Walter Momper, der als der Mann mit dem roten Schal zur Leitfigur der Erregungs- und Erwartungswellen wird, die das vorwinterlich graue Berlin durchziehen.
In der Mitte als Erkennungsmal für den Zustand der Stadt: die gewaltige Brache zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz, zwischen Tiergarten und DDR-Plattenbau-Fassaden, mit Mauer, Sperrzone und der Stadtkulisse im Hintergrund. Ein riesiger Krater an der wieder zum Zentrum gewordenen Grenzzone der beiden Berlins, der sichtbar macht, was für ein ungeheuerlicher Vorgang sich hier ereignet hat. Darüber Schwärme von Krähen. Der Offenbarungseid der Geschichte der Teilung. Eine deutsche, eine mitteleuropäische Geschichte.
Doch ist unübersehbar, dass eine andere Zeit beginnt, Tag für Tag mehr, und Wochen gleichen fast schon Epochensprüngen. Ost-Berliner auf dem Kurfürstendamm, West-Berliner Unter den Linden, aber doch irgendwie anders, freier als früher – Pirschgänger in fremd gewordene Welten, Blicke in der Stadt und auf die Stadt und über die Grenze an Stellen, die viele Jahre von Sichtblenden verstellt waren. Tastende Gespräche, überraschende Bekanntschaften, vorsichtiges Ausstrecken von Fühlern über die ihrer Macht beraubte Mauer hinweg. „Wer jetzt in Berlin lebt“, notiert bewegt der Bürgerrechtler Jens Reich, „fühlt die Stränge wachsen: überall neue Kontakte, neue Begegnungen, neue Unternehmungen.“ Ist es der Zauber, der nach dem Dichterwort jedem Anfang innewohnt?
Tatsächlich liegt über den Begegnungen von West- und Ost-Berlinern in diesen ersten Wochen und Monaten noch der Überschuss der Euphorie des Mauerfalls. Er gibt ihnen einen fast beschwingten, die Gemüter und Köpfe öffnenden Elan. Ein animierender Zwischenzustand, der Westen und Osten miteinander verbindet, verwandelt den kollektiven Gefühlshaushalt: „Die Menschen sind einander noch hinreichend fremd, aber so interessant ähnlich.“ Auch mit dem Ja-aber-Widerspruch aus dem tiefen Kreuzberg, auf den der Essayist Friedrich Dieckmann bei seiner ersten Westvisite in einem Schaufenster stößt: „Bewegung - Ja! / Aber: bitte nicht nach hinten! / Freier Weg für freie Bürger. / Aber: dem Kapitalismus keine neue Chance.“
Im Ostteil der Stadt aber schlägt die Maueröffnung ein wie ein elementares Naturereignis. Sie schüttelt den Alltag durch, greift hinein in das Leben der Einzelnen mit neuen Freiheiten und massiven Verunsicherungen. „Der Alltag war ein Irrsinn, in dem sich die Zeiten ineinanderschoben, Tage sich selbst überholten“, erinnert sich der Journalist Robert Ide, der 14 Jahre alt ist, als die Mauer fällt. Er erfährt den neuen Zustand als „tägliche Gefühlsentstauung“, als Folge von Momenten, „in denen fast alles Erlernte und Erlebte vom Herbststurm davongefegt wurde. An einem Dienstag demonstrierten wir vor dem Haus des Lehrers gegen den Sonnabendunterricht – am Sonnabend gab es ihn schon nicht mehr. An einem Montag riefen die Menschen Wir sind das Volk für eine reformierte DDR, am nächsten feierten sie Helmut Kohl. An einem Freitag machten in der Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg, dem vermeintlichen Ku’damm des Ostens, die Geschäfte nicht mehr auf, weil alle zum richtigen Ku’damm pilgerten. Und irgendwann sagten die Menschen zum Sonnabend das Wort Samstag“ – Berliner, die immer Sonnabend gesagt hatten, ein Begriffswechsel, der ihre Überwältigung offenlegt. Die Zeit schmilzt zusammen und dehnt sich zugleich aus.
Plötzlich ist vieles möglich, was bisher nicht vorstellbar war. 15 Jahre lang war zum Beispiel der 1976 verbotene Film „Die Spur der Steine“ ein Exempel der restriktiven Kulturpolitik der SED. Jetzt wird er aufgeführt, sogar der neue SED-Generalsekretär Egon Krenz besucht die Vorstellung und schüttelt dem Hauptdarsteller Manfred Krug die Hand, der eine DDR-Legende war und inzwischen eine Film- und Fernsehgröße in West-Berlin ist. Wolf Biermann hat im Dezember 1989 seinen ersten Auftritt in Berlin seit seiner Ausweisung 1976, und im Publikum mischen sich Tränen der Rührung und kalte Wut. Mit einer öffentlichen Diskussion über den Stalinismus setzt die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit ein und findet ihren Höhepunkt in einer sechsstündigen Debatte im Deutschen Theater am 21. Dezember 1989 – es ist der Geburtstag des Sowjetführers, der zum Inbegriff der Fehlentwicklung des Systems geworden ist. Die Volkskammer, die alte Zustimmungsmaschine, wird zum Platz erstaunlicher Szenen und liefert Zitate, die sogleich Flügel bekommen: „Man hat das Gefühl, vierzig Jahre Sozialismus rinnen unter den Füßen davon“, gesteht Horst Sindermann, Altfunktionär auf vielen Posten, und Stasi-Chef Erich Mielke wird berühmt mit seiner gestammelten Eröffnung: „Ich liebe euch doch alle“ – sie gibt einem Buch mit Stasi-Protokollen den Titel, das ein paar Wochen später den Verkäufern aus den Händen gerissen wird. Und auf dem Weihnachtsmarkt in Ost-Berlin tauchen – eine Ufo-Landung könnte nicht spektakulärer sein – der amerikanische Senator Edward Kennedy und Willy Brandt auf.
Mit dem Aufatmen, das durch die Stadt geht, gerät aber auch der Zustand massiv in den Blick, in dem sich ihr Ostteil befindet, und er ist ruinös. Das ist keine wirkliche Entdeckung, aber nun tritt die verzweifelte Lage Ost-Berlins ins Licht der öffentlichen Debatte und wird zum Thema der Zeitungen und der elektronischen Medien. Die Lücken, die die Ausreisewellen der letzten Wochen und Monate gerissen haben, werden in den Stadtverordnetenversammlungen und den Medien erörtert, ebenso die Folgen der Misswirtschaft im Alltag. Überall werden beklemmende Bilanzen aufgemacht. Es sind die konkreten Details, die die Misere sichtbarer machen als jeder Leitartikel: In einem Stadtbezirk sind – so kann man jetzt in den Zeitungen lesen – seit Jahresbeginn 1782 Bewohner ausgereist, außerdem 12 Ärzte, 13 Zahnärzte, 32 Krankenschwestern, in dem anderen beläuft sich der Abgang auf 2200, davon allein 450, die im Handel und in der Versorgung tätig sind. Da müssen achtzehn Geschäfte geschlossen, dort die Öffnungszeiten verkürzt werden, die Versorgungslage spitzt sich zu, und im Transportwesen wird händeringend nach freiwilligen Helfern gesucht.
Die Lage im Gesundheitswesen ist so bedrohlich, dass die West-Berliner Ärztekammer erwägt, West-Berliner Ärzte für die Arbeit im Osten anzuwerben; das Vorhaben scheitert an den drastischen Unterschieden beim Einkommen und an der Drohung der Ost-Berliner Ärzte für den Fall, dass der Barausgleich für die Westkollegen zu groß ausfällt. Und in die Klagen über die Zustände in den Betrieben wie in den Theatern – bei den herrschenden Minusgraden wird in der Volksbühne empfohlen, die Mäntel anzubehalten, weil das Haus nicht beheizbar ist – mischen sich die Nachrichten über Regierungskorruption und Übergriffe der Staatsgewalt.
„Wann wird der Sumpf endlich trockengelegt?“, fragt empört die „Berliner Zeitung“, das Ost-Berliner SED-Blatt, Anfang Dezember dreispaltig auf ihrer ersten Seite. Anlass ist die Flucht von Alexander Schalk-Golodkowski nach West-Berlin, des „ominösen Staatssekretärs“, wie das Blatt die graue Eminenz des Staatshandels nennt, mit dem sich die DDR auf halbkriminelle Weise die begehrten Westdevisen beschaffte. Doch die Schlagzeile bringt auch das Erschrecken zum Ausdruck, das in der Öffentlichkeit um sich greift. Es gilt den Entdeckungen, die DDR-Journalisten zum Beispiel in Wandlitz machen, der abgeschotteten Wohnsiedlung der Partei- und Staatsführung. Dort gibt es alles, was es in der DDR nicht gibt – Lebensmittel aus dem Westen, Elektronik auf internationalem Niveau, kapitalistische Luxuswaren. Die Nachricht, dass in einem Dorf in Mecklenburg ein Lager für den internationalen Waffenhandel entdeckt worden ist, wirkt in einer erregten Öffentlichkeit wie ein Funke in einer explosiven Ladung.
Und so weiter und so fort: Fassungslos erleben viele – auch solche, die mit dem DDR-Sozialismus sympathisierten –, dass sie über einem Abgrund an Unwahrhaftigkeit gelebt haben. Wie benommen über das Tempo und den Tiefgang der Veränderung kommentiert eine Kritikerin einen Dokumentarfilm über die Proteste in der Gethsemane-Kirche im Oktober, einem Hauptort der friedlichen Revolution. Sie waren in der DDR verschwiegen worden, obwohl die Nachrichten darüber sich lauffeuerhaft verbreiteten: „Der Film entstand in einer Zeit, als uns morgens die Schamröte ins Gesicht stieg, wenn wir die eigene Zeitung aufschlugen. Es ist noch nicht ein halbes Leben her, wie uns das mitunter vorkommen will, das war alles im vergangenen Monat.“
Nächste Folge: Operation am offenen Herzen.
HEUTE
Ein Anfang,
ein Abgrund
Die weiteren Folgen
Operation
am offenen Herzen
Zwei Hauptstädte am Himmel
Eine Stadt wird auf den Kopf gestellt
Das neue Berlin wird sichtbar
Hermann Rudolph: Berlin – Wiedergeburt einer Stadt.
Quadriga Verlag,
432 Seiten, 24,99 Euro. Das Buch erscheint am 8. Oktober.
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