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Raus aufs Land. Bis zu 10 000 Berliner sind früher jährlich in die nahen Städte und Gemeinden Brandenburgs gezogen. Überall sind wie hier in Potsdam das Kirchsteigfeld neue Wohngebiete entstanden. Doch der Trend zum Wohnen im Grünen ist laut Experten vorbei.

© dapd

Wohnen im Berliner Umland: Wo die „grünen Witwen“ von morgen wohnen

Noch weisen Bevölkerungsprognosen für das Umfeld von Berlin enorme Zuwächse auf. Doch Experten warnen vor der Zeit nach der großen Stadtflucht.

Von Matthias Matern

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Berlin/Potsdam - Seit Jahren schnellen die Bevölkerungszahlen im Berliner Umland in die Höhe. Während Brandenburgs Randregionen unter drastischem Einwohnerschwund leiden, kommen viele Gemeinden im Umfeld Berlins kaum noch mit der Bereitstellung der notwenigen Infrastruktur hinterher. Neue Kitas werden gebaut, Schulkomplexe entstehen. Doch beim Ansturm auf die Gemeinden im Umland ist der Zenit bald erreicht, sind sich Experten einig. Zuwachsraten von mehr als 24 Prozent, wie sie derzeit noch für Dallgow-Döberitz (Havelland) vorhergesagt werden, gehören demnach bald der Vergangenheit an. Beim Bau neuer Schulen und Kitas etwa sollten die Kommunen deshalb lieber Vorsicht walten lassen, rät Heike Liebmann, Stadtplanerin und Vorstandsvorsitzende der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung in Potsdam.

Bespiele, wo eine auf Vorrat gebaute Infrastruktur hinführen kann, sieht Liebmann vor allem in einigen Regionen in den westlichen Bundesländern, wie etwa im Rheinland. Auch dort seien früher junge Familien aufs Land gezogen, seien großflächige Einfamilienhaussiedlungen entstanden, nebst Kindergärten, Einkaufszentren und Schulen. „Doch die Frage ist, ob die Kinder später dort auch bleiben wollen“, gibt Liebmann zu bedenken. In einigen Vororten und kleineren Ortschaften im Westen gibt es bereits das geflügelte Wort der „grünen Witwen“, also Mütter, die mit ihren Familien aufs Land gezogen seien, deren Kinder aber mittlerweile zum Studium wieder in die Stadt gezogen sind und deren Männer zudem tagsüber auf der Arbeit sind und die deshalb häufig alleine seien, meint die Stadtplanerin. Ohnehin sei seit einiger Zeit wieder eine Orientierung hin zur Stadt zu verzeichnen, so Liebmann. Auch das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg registriert nach eigenen Angaben seit einiger Zeit einen verstärkten Zuzug von 18- bis 30-Jährigen aus Brandenburg nach Berlin.

In der aktuellen Bevölkerungsprognose der brandenburgischen Landesverwaltung bis zum Jahr 2030 wird zwar nach wie vor von steigenden Einwohnerzahlen im berlinnahen Raum durch Zuzug aus der Hauptstadt augegangen, doch werde sich dieser Wanderungsgewinn „wahrscheinlich wegen rückläufiger Wohnsuburbanisierung“, also einem abnehmenden Hang zur Stadtflucht, abschwächen, heißt in dem Bericht. Noch vor einigen Jahren seien im Schnitt pro Jahr rund 10 000 Berliner ins brandenburgische Umland gezogen, sagt die langjährige Abteilungsleiterin der gemeinsamen Landesplanung der Länder Berlin-Brandenburg und jetzige Staatssekretärin im Infrastrukturministerium Brandenburgs, Kathrin Schneider. „Jetzt sind es etwa noch 6000 bis 8000.“ Zuwächse werde es vor allem noch im Bereich um den künftigen Großflughafen in Schönefeld geben, schätzt Schneider. „Lange sind auch die Berliner Planer davon ausgegangen, dass die ganzen hippen Jugendlichen im Prenzlauer Berg oder im Friedrichshain irgendwann später einmal mit ihren Frauen und Kindern aufs Land ziehen“, sagt die erfahrene Landesplanerin. „Viele sind aber einfach dageblieben, sodass dort plötzlich mehr Kitaplätze benötigt werden als gedacht.“ Eher das Gegenteil ist der Fall. Die Brandenburger stellen laut Statistik die größte Gruppe der Neu-Berliner.

Nach Ansicht von Karl-Ludwig Böttcher, Geschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes Brandenburg, werde die Gefahr von Überkapazitäten in der Infrastruktur nicht zuletzt durch den ab 1. August bestehenden Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für Kinder ab dem ersten vollendeten Lebensjahr noch verschärft. „Noch können wir alle Schulen und Kitas, die wir auf dem Land schließen müssen, im Speckgürtel gut gebrauchen“, sagt Böttcher. Tatsächlich werden sich sogar noch einige in den Kommunen die Augen reiben, dass der Rechtsanspruch gar nicht so reibungslos erfüllt weren könne wie gedacht, warnt der Städtebundchef. „Doch man muss sich auch fragen, was ist in zehn Jahren, bleiben die Kinder im Berliner Umland, bekommen sie dann dort selbst Kinder?“ Karl-Ludwig Böttcher ist da skeptisch: „Dieser hundertprozentige Versorgungsanspruch wird uns noch einmal auf die Füße fallen.“

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