Brandenburg: Zu wenig Rückzugsraum
Früher als andere Länder machte sich Brandenburg daran, Gewalttaten in Flüchtlingsunterkünften einzudämmen. Doch der rasante Anstieg der Asylbewerberzahlen bremste die Pläne aus
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Potsdam - „Je schwieriger die Bedingungen sind, desto mehr Ärger gibt es.“ Mit dieser einfachen Formel lasse sich erklären, warum die Zahl der Gewalttaten in Gemeinschaftsunterkünften für Asylbewerber steigt, sagt der Sprecher des brandenburgischen Innenministeriums, Ingo Decker. Meist gehe es um Körperverletzung – Rangeleien, Prügeleien, Messerattacken. Genaue Zahlen nennt Decker nicht, das sei vor Jahresende unseriös.
Stattdessen beschreibt er präzise, was zu tun wäre: Personal schulen, massenhafte Unterbringung in Zelten minimieren, mehr Sport- und Freizeitaktivitäten anbieten. „Aber“, sagt Decker mit Blick auf den extremen Anstieg der Flüchtlingszahlen: „Die derzeitige Entwicklung überrollt viele gute Absichten.“ Dabei konnte man Brandenburg eine Vorreiterrolle bescheinigen bei der Aufarbeitung des Problems. Vor einem Jahr gab das Innenministerium eine Studie in Auftrag – laut Decker und dem Leiter der Untersuchung, dem Potsdamer Soziologen Wolfgang Bautz, vermutlich bis heute die einzige ihrer Art in Deutschland. Ziel war es, die Ursachen für Gewalt in den Unterkünften zu ergründen und Lösungen vorzuschlagen.
Von Oktober bis Dezember 2014 fuhr Bautz also in die damals noch rund 40 Gemeinschaftsunterkünfte in der Mark – heute sind es mehr als 100 – und führte Interviews mit Bewohnern, Sozialarbeitern und Wachleuten. „Hauptursache für Gewalt und Aggression ist die Beengtheit“, resümierte der 63-Jährige, als die Untersuchung im März 2015 fertig war.
Weitere Erkenntnisse: Konflikte entstehen vor allem dort, wo sich Bewohner Räume teilen müssen: in Küche, Flur oder Gemeinschaftsbad. Es gibt zu wenig Personal, das oft nicht qualifiziert ist. Sprechen die Asylbewerber keine gemeinsame Sprache, häufen sich zudem Missverständnisse. Die Bewohner haben zu wenig Freizeitbeschäftigungen und keinen strukturierten Alltag. Und dann gibt es noch den Sonderfall „häusliche Gewalt“ von Flüchtlingen, „die mit ihrer Religionsausübung eher konservative, für Frauen restriktive Praktiken verbinden“, heißt es in der Studie.
Es folgten erste Konsequenzen. Ein Psychologe wurde engagiert, der Mitarbeiter der Heime in Workshops im Umgang mit Konflikten schulen soll. Die erste Veranstaltung findet kommende Woche statt. Für die Bewohner der Unterkünfte werden Streitschlichtungskurse angeboten.
Die zentrale Landeserstaufnahmestelle in Eisenhüttenstadt (Oder-Spree) bekommt einen Spielplatz und eine Kita, es beginnt regulärer Schulunterricht. In der Zweigstelle in Ferch (Potsdam-Mittelmark) wird seit Längerem ein regelmäßiges Fußballtraining angeboten (PNN berichteten). Insgesamt 100 000 Euro nimmt das Ministerium in die Hand, um die Bedingungen innerhalb von drei Jahren zu verbessern. Und tatsächlich: Im ersten Halbjahr 2015 geht die Zahl der Gewalttaten zurück – trotz weiter steigender Flüchtlingszahlen.
Dann kommt der September. „Und seitdem haben wir keine steigenden Asylbewerberzahlen mehr – seitdem haben wir eine Massenflucht nach Deutschland“, sagt Decker. Die Folge: Die Gewalttaten in den Unterkünften häufen sich wieder. Doch die Maßnahmen werden zurückgefahren. „Es wäre natürlich wünschenswert, mehr zu tun“, bekräftigt Decker. „Aber wir können das nicht.“ Man könne nicht sagen, wir brauchen hier jetzt Platz für ein Fußballfeld, „wenn wir Zelte und Leichtbauhallen zur Erstunterbringung aufstellen müssen. Und das müssen wir“, sagt Decker. Die Möglichkeiten von Ländern und Kommunen gingen zu Ende.
Dabei sind sich Ministeriumssprecher und Studienautor erstaunlich einig, was zu tun wäre. „Angesichts der hohen Flüchtlingszahlen und der Unterbringungsbedingungen muss man sich manchmal wundern, dass nicht mehr passiert“, sagt Decker. „Wenn man Möglichkeiten bietet, dass die Menschen sich zurückziehen und sich ein Minimum an Privatsphäre aufbauen können, sinkt die Wahrscheinlichkeit von Gewalttaten signifikant“, sagt Bautz.
Innenminister Karl-Heinz Schröter (SPD) sagte kürzlich mit Blick auf die schwierige Lage bei der Flüchtlingsaufnahme, das Land befinde sich im „Krisenmodus“. Hält er an, macht mit Blick auf die Gewaltprävention zunächst nur Bautz’ Einschätzung der Studienergebnisse Hoffnung: Die Zustände, die man zutage gefördert habe, seien seines Erachtens nach zeitlos.
Johannes Süßmann
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